Von Chile nach Minneapolis: Ein offener Brief

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Globale Solidarität mit der Rebellion gegen Polizei und Rassismus

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Im Folgenden präsentieren wir einen Brief von anarchistischen Teilnehmer*innen an la primera línea, der »ersten Reihe« der mächtigen sozialen Bewegungen, die Ende 2019 in Chile ausbrachen. Sie drücken ihre Solidarität mit den Demonstrant*innen aus, die auf die Morde an George Floyd, Breonna Taylor und zahllosen anderen Schwarzen reagierten, berichten von ihren Erfahrungen mit dem Aufstand in Chile und diskutieren die Herausforderungen, vor denen soziale Bewegungen heute stehen. Am Ende des Artikels findet ihre eine englische Übersetzung eines Leitfadens aus Chile zum Umgang mit Tränengas und anderen Bedrohungen bei Demonstrationen.


»Estados Unidos despertó« – (Die vereinigten Staaten sind aufgewacht)

Lateinamerika sieht die Vereinigten Staaten als die imperiale Macht an. Unsere Diktatoren wurden durch die Hilfe der US-Regierungen installiert. Die US-Amerikanischen Konzerne monopolisieren unsere Wirtschaft und sorgen so für erhöhte Lebenshaltungskosten und drücken gleichzeitig unsere Löhne. Derweil finanziert die Wall Street die Rohstoffindustrie, die unsere Gewässer, Ländereien und Körper ausbeutet und vergiftet.

Die meisten von uns kennen das Leben in den Vereinigten Staaten nur wegen seines Reichtums und der im Fernsehen gezeigten Wolkenkratzer. Am 18. Oktober 2019 wachte Chile auf (»Chile despertó«): die U-Bahn von Santiago wurde stillgelegt, jeder sechste Walmart geplündert und es wurde gegen die politische Klasse – die der Rechten und auch die der Linken – rebelliert. Eine Klasse, die im Grunde die Unterhändler zwischen dem Land und der globalen Wirtschaft sind. Das Bild der Vereinigten Staaten im Ausland hat sich jetzt verändert, es ist nun geprägt von der Revolte in Erinnerung an George Floyd und allejene, die von der Polizei ermordet wurden. Die Chilenischen Medien haben keine andere Wahl mehr, als den wahren Charakter des amerikanischen Alltags, seine Prekarität, seinen Rassismus und die Wut der Menschen darauf zu zeigen. Die chilenischen Meme-Seiten, die den Oktoberaufstand angetrieben haben, wenden sich nun der Energie und Leidenschaft zu, die auf den Straßen der amerikanischen Metropolen lebt. Der Blick aus dem Süden, so der Obstverkäufer neben unserem Haus, lautet: estados unidos despertó – Die Vereinigten Staaten sind aufgewacht.

Wir sind eine Gruppe von Freund*innen, die zur primera línea (»der ersten Reihe«) gehören, die sich den Bullen in den Weg stellt, um die Demonstrationen in Santiago vor Angriffen zu schützen. Viele, die auf die Straße gehen, sind Familienangehörige von Menschen, die während der Diktatur gefoltert wurden oder verschwunden sind. Andere sind in den Teilen der Bevölkerung groß geworden, deren alltägliches Leben aus Ausgrenzung und Kriminalisierung durch die politischen Parteien besteht. Wieder andere kamen als Pazifist*innen, die allerdings schnell die Notwendigkeit erkannt und den Mut gefunden haben, Steine auf die Bullen zu werfen.

Wir berichten euch über unsere Erfahrungen und darüber, was passieren wird, wenn ein Aufstand monatelang andauert. Wenn Regierungen den Ausnahmezustand ausrufen, das Militär mobilisiert und die Bürger*innen auffordern, eine Rückkehr zur Normalität zu erzwingen, die nur wenige wollen. Sie versuchen, eine Welt klarer Trennungen herzustellen: zwischen friedlichen Demonstrant*innen und kriminellen Chaot*innen, zwischen Normalität und Krise, zwischen Menschenrechten und nationaler Sicherheit, zwischen guter Polizei und bösen Störenfrieden. Wir möchten ein paar Reflexionen aus den letzten Monaten in Chile vorstellen, um zu zeigen, dass diese Trennungen nie so deutlich sind, wie sie dargestellt werden, und dass der Kampf um die Würde darauf beruht, sie vollständig zu beseitigen.

Eine Mauer zum Gedenken an die vom chilenischen Staat bei den Protesten 2019 getöteten Demonstrant*innen.

Nach der ersten Nacht der Unruhen, die sich auf die ganze Stadt erstreckten, folgte eine Woche friedlicher Proteste, die in denselben Straßen stattfanden, in denen es zuvor brennende Barrikaden, geplünderte Geschäften und Gruppen maskierter Jugendlicher, die Steine auf die Bullen warfen, gegeben hat. Als Reaktion auf die weit verbreiteten Unruhen rief die Regierung den Ausnahmezustand aus und schickte das Militär, um auf den Straßen zu patrouillieren. Das Militär führte rasch eine Ausgangssperre ein und setzte das Versammlungsrecht für 90 Tage aus. Zum ersten Mal seit der Diktatur wurde die Armee im ganzen Land auf die Straße gerufen. Als Reaktion darauf wurden die größten Proteste in der Geschichte Chiles abgehalten. Chile gilt als demokratisches Land, aber ironischerweise fanden die größten Proteste in einer Zeit statt, in der Demonstrationen illegal waren. Während verschiedene Organisationen zu ihren Demonstrationen aufriefen, brachen die Proteste allerdings auch unabhängig davon aus, wobei die Menschen in Scharen ihre Häuser verließen, um sich anzuschließen.

Zunächst wurden überall dort friedliche Kundgebungen organisiert, wo sich die Menschen versammelten, Töpfe und Pfannen schlugen und auf den Straßen sangen. Diese Proteste wurden jedoch unvermitteltvon der Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern aufgelöst. Soziale Netzwerke wurden zu einem Ort, an dem Videos von Polizeibrutalität und Menschenrechtsverletzungen ausgetauscht werden konnten: Schläge auf Menschen auf der Straße und Geschichten von Folter und Vergewaltigung durch Polizei und Soldaten. Menschenrechtsgruppen hielten täglich Demonstrationen ab, und die UNO entsandte eine Delegation zur Untersuchung von Polizeibrutalität und Foltervorwürfen.

Im Endeffekt werden offizielle Beschwerden und Menschenrechtsuntersuchungen jahrelang andauern. Die einzige sinnvolle Reaktion auf solche Menschenrechtsverletzungen war die Fortsetzung des Konflikts mit der Polizei. Die einzigen Proteste, die länger als 30 Minuten andauern konnten, waren Barrikaden und Menschenmassen, die bereit waren, die Polizei daran zu hindern, die Menge zu zerschlagen und dadurch die Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung gewährleisteten. Die Metrostation baquedano an der Plaza de la dignidad, wo die Polizei die Menschenmenge einkesselte und die Demonstrant*innen folterte, wurde außer Betrieb gesetzt, nachdem Demonstrant*innen den Eingang mit Steinen und Trümmern verbarrikadiert hatten.

Diese Teile des Protests, Jugendliche, die Steine warfen und Schilde trugen, wurden als primera línea (= erste Reihe) bezeichnet, gefolgt von der zweiten Reihe von Menschen mit Laserpointern, einer dritten Reihe von Demonstrant*innen, die Flaschen und Krüge mit Wasser dabei hatten, um Tränengas zu behandeln und zu neutralisieren, und der vierten Reihe mit Demosanitäter*innen, die verletzte Demonstrant*innen wegtransportierten und erste Hilfe leisteten.

Folterstätten wurden zu Stätten der Erinnerung und des Widerstands. Bei Protesten in Zeiten der Normalität hatten viele Menschen zuvor Angst vor den encapuchadxs (maskierten Demonstrant*innen); bei früheren Demos schrie man sie nieder und beklagte sich, dass sie Polizeigewalt provozieren würden. Aber wir lebten nicht mehr in normalen Zeiten: Die drohende Rückkehr zur Diktatur bedeutete, dass die Freiheit selbst auf dem Spiel stand - und die einzige Kraft, die die Rechte aller schützen konnte, waren die Menschen auf der Straße, und nur sie selbst.

Die primera línea ermöglichte es, im Laufe der folgenden Monate eine breite Vielfalt an Protestkultur entstehen zu lassen: Pikachutanz, Straßentheater, neue Lieder und Musikbands, die sich jeden Freitag auf dem plaza de la dignidad trafen. Diejenigen, die sich nie hätten vorstellen können, die Konfrontation mit den Bullen einzugehen, konnten sich der primera línea anschließen und versuchen, die Polizei mit Steinen zu treffen oder Trängasganister zu löschen. Vor Jahren war es noch unvorstellbar, dass die encapuchadxs, die einst entweder als Zivibullen oder rücksichtslose junge Kriminelle galten, die Held*innen einer sozialen Bewegung sein würden. Nach dem 18. Oktober riefen jedoch unzählige Organisationen zu Soli-Veranstaltungen auf, um für die primera línea Geld für medizinische und juristische Kosten zu sammeln. Überdies wurde eine Gruppe von der primera línea eingeladen, um auf einer lateinamerikanischen Menschenrechtskonferenz über Polizeibrutalität zu referieren. Diejenigen, die auf der Plaza Empanadas, Wasser oder Bier verkauften, gaben den Menschen der primera línea oft kostenlos Essen und Trinken.

»Wir sind nicht dein Feind, wir sind die Bevölkerung«

Zunächst waren wir erschrocken und besorgt über die Plünderungen und Brandstiftungen, als Metrostationen und Bürogebäude in Brand gerieten. Gerüchte verbreiteten sich, dass es die Polizei wäre, die versuchen würde, die Demonstrationen als illegitim hinzustellen und die Übernahme des Landes durch das Militär zu rechtfertigen, und dass Banden die Proteste ausnutzten, um Geldautomaten, Apotheken und Supermärkte auszurauben. Obwohl Monate vergangen sind, wissen wir immer noch nicht, wer die einzelnen Aktionen durchgeführt hat. Aber die Proteste endeten nicht aus Angst vor einem Militärputsch oder einer Zunahme der organisierten Kriminalität. Sie endete auch nicht wegen der heftigen militärischen Reaktion auf diese Zerstörung von Eigentum. Das Militär auf die Straße zu rufen und die Bürger*innen aufzufordern, in ihren Häusern zu bleiben, erzeugte nicht die beabsichtigte Wirkung. Die Unterdrückung friedlicher Proteste durch das Militär führte nur zu einem höheren Maß an Selbstverteidigung, da die Demonstrant*innen Barrikaden errichteten, um Militärfahrzeuge zu blockieren, und Pflastersteine verwendeten, um sie auf Distanz zu halten. Es wurden immer mehr Geschäfte geplündert, nicht um sich an den kommerziellen Waren zu bedienen, sondern um Material zum Bau der Barrikaden zu bekommen. Wir waren an einem Punkt angelangt, an dem alljene, die an einem Protest teilnahmen, zu Recht sagen konnten, dass es die Institution des Eigentums selbst ist, die eine hochgradige Kriminalität darstellt.

In diesem unsicheren und beängstigenden Moment erwarteten die Menschen überall, dass die Unruhen in Chile zu einem schnellen Abschluss kommen würden, dass der Präsident zurücktreten würde, dass eine verfassungsgebende Versammlung gebildet werden würde und dass wir alle eine neue »Normalität« schaffen würden, um in Würde leben zu können. Allerdings gibt es in diesen Zeiten keine stabile Normalität: Die Covid-19-Pandemie hat das Verfassungsreferendum ausgesetzt und die gleiche illegitime Regierung ist im Namen der Bewältigung der gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesundheitskrise immer noch an der Macht.

Es ist noch zu früh, zu wissen, wohin die gegenwärtigen Unruhen in den Vereinigten Staaten führen werden. Aber wir glauben, dass die Suche nach einer raschen Lösung eine auf Angst basierende Resignation wäre, bei der Millionen Menschen weiterhin so tun würden, als ob alles in Ordnung wäre, als ob das Leben noch für alle funktionieren würde.

Zwischen den Momenten des Ausnahmezustands und der Normalität dauert die Krise an - aber nur in Zeiten des Ausnahmezustands haben die Menschen keine Angst mehr davor, ihre gemeinsame Wut auszuleben und herauszufinden, wie sie eigentlich leben wollen.


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