Der G20 Gipfel 2017 provozierte die bislang heftigsten Auseinandersetzungen in Deutschland in diesem Jahrhundert. Wir waren vor Ort und haben kontinuierlich berichtet; in dem Monat, der seitdem vergangen ist, haben wir die Berichte aus Hamburg zusammengebracht und einen komplette Chronologie und Analyse hergestellt. Herausgekommen ist eine epische Geschichte von Staatsgewalt und breitem Widerstand dagegen, welcher auf diesem Level bislang sowohl in den USA wie auch in Nordeuropa kaum beobachtet werden konnte.
Dieser Text ist auch als Broschüre erschienen, die ebenfalls kostenlos bei www.black-mosquito.org bestellt werden kann. Zine als PDF runterladen.
Die Kurzversion: Die Polizei versuchte mit roher Gewalt all jene, die gekommen waren um gegen den G20 zu protestieren zu isolieren und zu terrorisieren. Im Lauf der Geschehnisse brachten sie so einen großen Teil der Bevölkerung gegen sich auf und die Stadt geriet außer Kontrolle. Dies ruft uns wieder ins Bewusstsein, dass die wichtigsten Ereignisse an den Rändern von jedem gegebenen Konflikt stattfinden – die Verbreitung von Rebellion ist bedeutsamer, als die Aktionen selbsternannter Radikaler. Die Strategie der Polizei unterstreicht wie wichtig altbekannte Zwangsmittel für die Herrschaft der G20 sind; nichtsdestotrotz konnten wir beobachten wie eine entschlossene Bevölkerung selbst die best-trainierte und ausgerüstete Polizei aus-manövrieren kann. Wenn 31.000 militarisierte Polizist_innen, die ihr ganzes Repertoire bis kurz vor tödlicher Gewalt anwenden, nicht in der Lage sind die Ordnung beim wichtigsten und bestgesicherten Ereignis des Jahres in der reichsten Nation Europas aufrecht zu erhalten; dann ist es vielleicht auch wieder vorstellbar, eine Revolution zu denken.
Also müssen wir damit anfangen die Courage all jener die sich gegen den G20 aufgelehnt haben – sei dies durch das Organisieren von Demonstrationen, die Unterbringung von Gästen nachdem die Polizei die Camps angriff, durch das Mitlaufen im Black Bloc, durch die medizinische Hilfe für Opfer von Polizeigewalt oder durch das Stören der scheinheiligen „Hamburg räumt auf“ Aktion im Nachhinein – zu ehren.
Jeder Sieg bringt aber auch neue Herausforderungen mit sich. Während keine*r erwartet hätte, dass sich Hamburg inmitten einer quasi militärischen Besatzung durch die Polizei erfolgreich zur Wehr setzt und eine temporär autonome Zone errichten würde, gibt dieser Erfolg rechten Autoritären und ihren angsterfüllten linken Komplizinnen eine gefundene Ausrede um nach noch mehr Staatskontrolle zu schreien. In der Konsequenz daraus haben einige Leute – insbesondere jene, die nicht in Hamburg waren – eine Verschwörungstheorie entwickelt, laut der die Autoritäten vorsätzlich der Polizei erlaubt haben die Kontrolle in Hamburg zu verlieren. Dies ist eine alte, wiederkehrende Behauptung, die jedes mal wieder auftaucht, wenn sich die Leute gegen die Polizei behaupten. Es ist ein automatisierter Reflex jener, die sich so sehr an die Kontrolle des Staates gewöhnt haben, dass sie alle Ereignisse dem Einfluss einer monolithischen, allmächtigen Autorität zuweisen. In dieser Chronologie der G20 Proteste werden wir alle Fakten zur Disposition stellen, so dass du für dich selber entscheiden kannst, was passiert ist.
Einige Fotos von Lukas Beyer. You can read this article in English here and download an English version of the zine here.
Was auf dem Spiel stand
Der G20 Gipfel 2017 war der das erste globale Treffen der Trump-Ära, auf dem sich autoritäre Herrscher wie Putin und Erdogan mit klassischen Neoliberalen wie Angela Merkel oder dem französischen Präsidenten Macron trafen. In diesem Kontext waren Proteste vorherbestimmt. Würden die Protestierenden die Neoliberalen legitimieren, wenn sie sich den Nationalisten entgegen stellen? Würden sie kleinlaut Petitionen einreichen – oder sich der gesamten Struktur der Weltordnungspolitik entgegen stellen? Und würde Deutschland die Proteste zulassen oder versuchen sie zu unterdrücken? Während der Süden und der Osten Europas weiterhin unter der ökonomischen Krise leiden und selbst Frankreich sich schon Austeritätsmaßnahmen unterwerfen musste, bleibt Deutschland einer der letzten Außenposten der Sozialdemokratie und Vermögensverteilung des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu den flüchtigen sozialen Bewegungen, die sonst oft weit verbreitet sind, basiert radikale Politik in Deutschland immer noch auf einer Gegenkultur, die aus der autonomen Szene des 20. Jahrhunderts stammt. Die deutsche Polizei ist vermutlich die erfahrenste und effektivste Polizei Europas wenn es darum geht soziale Unruhe zu unterdrücken, auch wenn es eine Tradition von ritualisierten Auseinandersetzungen auf der Straße gibt. Wenn es irgendeine Nation in Europa gäbe, die die Ordnung während des G20 aufrecht erhalten kann, dann wäre es wohl Deutschland gewesen.
In einem Akt der kolossalen Selbstüberschätzung sahen die deutschen Autoritäten im G20 eine Möglichkeit um auszutesten, wie viel sie einer der rebellischsten Städte Deutschlands zumuten können. Weder sie selber noch jene, die gegen sie mobilisiert hatten, hatten vorausgesehen was daraufhin passieren würde.
Ort, Verortung, Örtlichkeit
In Deutschland war mensch darüber verblüfft, das Angela Merkel und Olaf Scholz sich dazu entschlossen hatten, den G20 Gipfel in Hamburg – einer traditionell linken Stadt, mit einer lebendigen radikalen Szene – auszurichten. Und dann nicht nur irgendwo in Hamburg, sondern in St. Pauli, einem Stadtteil voller anarchistischer und autonomer Projekte, Häuser, sozialen Zentren, Graffiti und bekannt für seine linken Ultras.
Nach dem G8 Gipfel 2001 in Genua, bei dem Demonstrant*innen einen erheblichen Schaden anrichteten und die Polizei Carlo Guiliani ermordet und hunderte weitere ernsthaft verletzt hatte, fanden die nächsten Gipfel in wesentlich abgelegeneren Orten statt. 2002 ließ Kanada das Treffen 200 Meilen nördlich von Idaho in Kananaskis (221 Einwohner_innen) stattfinden. Das Jahr darauf fand der G8 in dem französischen Dorf Evian-les-Bains (8822 Einwohner_innen) statt. 2004 veranstalte George W. Bush das Treffen auf Sea Island in Georgia (298 Einwohner_innen). Tony Blair wählte 2008 die schottischen Highlands von Gleneagles für den G8 – und traf sogar da auf erwähnenswerten Widerstand.
Die Herrschenden waren aber trotzdem nicht immer so vorsichtig bei der Auswahl der Orte für die G20 Treffen. Der G20 Gipfel 2009 in Pittsburgh wurde begleitet von deutlichen Ausschreitungen; das gleiche gilt für das Jahr 2010 in Toronto, Kanada, bei dem Demonstrant_innen ein gesamtes Geschäftsviertel zerstörten.
Wenn es darum geht so ein Treffen in Deutschland auszurichten, dann war Hamburg definitiv die riskanteste Wahl der letzten Jahrzehnte. Der G7 1999 wurde in Köln ausgerichtet, ein paar Monate vor dem legendären WTO Gipfel in Seattle. 2007 wurde der G8 in Heiligendamm, einem abgelesenem Badeort ausgerichtet – und in Hamburg fand trotzdem ein Riot statt. 2015 hatten sich die G7 in das Schloss Elmau in Bayern eingeschlossen.
Ganz egal wie abgelegen die Orte waren oder wie hoch die Mauern der Paläste – die Leute klettern drüber und strömten über die Felder um die gegen die Treffen zu demonstrieren und wo möglich zu blockieren.
Eines war sicher: ob das Treffen nun im Herzen St. Paulis stattfindet oder in der Antarktis – der Gipfel würde nicht unwidersprochen vorbei ziehen. Warum also Hamburg? Warum also die Suche nach Troubel?
Fassungslosigkeit über die Ortswahl machte sich in den Wochen vor dem G20 breit uns sorgte für eine angespannte Atmosphäre, angefeuert durch Geschichten auswärtiger Linksradikaler, die kommen würden um Hamburg abzufackeln. Einer von zwölf Polizist_innen (bezogen auf ganz Deutschland), würde in Hamburg im Einsatz sein.
Einige mutmaßten, dass die Autoritäten die Bühne für massive Ausschreitungen vorbereiteten um den altbekannten „inneren Feind“ in Form des Linksradikalen wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Dies würde es der Regierung ermöglichen strengere Gesetze gegen „Extremismus“ zu erlassen und weitere Angriffe gegen autonome politische Projekte durchzusetzen. In der Tat wurde in Deutschland nur wenige Tage vor dem Gipfel ein Gesetz gegen verschlüsselte mobile Kommunikation erlassen. Nach dieser Theorie wären Ausschreitungen, wenn sie denn nicht stattgefunden hätten, von Agent Provocateures inszeniert worden.
Eine andere Theorie war, dass Hamburg als Trainingsgelände gesehen wurde. Seit Jahren nun werden deutsche Polizeitaktiken in südliche Schlachtfelder wie Griechenland exportiert, Deutschland hat zudem Gelände aufgebaut in denen urbane militärische Konflikte geübt werden. Diese Theorie würde auch erklären, warum Polizeieinheiten aus anderen Nationen der EU zum G20 eingeladen wurden.
Und schließlich waren auch viele davon überzeugt, dass Hamburg in der Hoffnung endgültig mit einem einst unkontrollierbaren Stadtteil aufzuräumen gewählt wurde. In den vergangenen Jahren wurde Hamburg für drei verschiedene Mega-Events ausgewählt oder vorgeschlagen, inklusive dem 23. Treffen der Minister der „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE) und der Olympiade 2024. Wie wir in unseren Berichten über die sozialen Bewegungen in Brasilien dokumentiert haben, ermöglichen Mega-Events dem Staat die Polizei zu militarisieren, rebellische Kieze platt zu machen und die Infrastruktur der Repression auszubauen. Den G20 in Hamburg zu veranstalten kann mensch lediglich als einen vorsätzlichen Versuch sehen, Konflikte anzuheizen und die Gentrifizierung voran zu treiben.
All diese 3 Narrative waren sowohl in den Mainstream Medien als auch im social media präsent. Unabhängig davon warum Hamburg gewählt wurde, gaben die Autoritäten ihr Bestes um zu vermitteln, dass die Stadt so militarisiert sein würde, dass jeder Protest unmöglich sei. Als Merkel im September 2016 den Vorsitz des G20 übernahm stand der Austragungsort Hamburg endgültig fest – und alle möglichen Kräfte begannen zu mobilisieren.
Die Invasion: Horden aus dem Süden
„Die ersten auswärtigen Cops sind bereits rausgeflogen. Es ist breit in den Medien. Alle regen sich über ihr Verhalten auf“ – erzählte mir ein Freund, eine Woche vor dem G20. Ich war etwas verängstigt und wollte mich nach meinen Freundinnen in Hamburg erkundigen, ich ging davon aus, dass sie durch massive Gewalt gegen die lokale Bevölkerung aufgefallen sein müssten.*
In den Nachrichten las ich dann aber eine ganz andere Geschichte:„Die Berliner Polizisten waren in einem Containerdorf untergebracht. Dort sollen Wachschützer beobachtet haben, wie ein Polizisten-Pärchen in aller Öffentlichkeit Sex an einem Zaun hatte. Zudem sollen die Beamten nach einer lautstarken Party gemeinsam in einer Reihe an einem Zaun uriniert haben. Außerdem soll eine Kollegin nur in einem Bademantel mit einer Waffe in der Hand auf einem Tisch getanzt haben“
Das ist es also, was den braven Bürger auf die Palme bringt? Wenn die Cops uns schlagen, werden sie ihnen wohl für ihren guten Job danken.
Es war klar, dass Hamburg eine der größten Polizeioperationen der jüngeren Geschichte Deutschlands werden würde. Die lokale Polizei wurde durch die Bundespolizei, das LKA und die Polizeieinheiten anderer Bundesländer unterstützt. Zum Gipfel selber waren über 31.000 Polizist_innen in der Stadt.
„Wie stark Leute verletzt sein werden, wird auch davon abhängen auf welche Polizeieinheit sie treffen werden“, erkläre ich meinem Freund aus den USA, während wir durch St. Pauli laufen. Tage vor dem Gipfel ist die Stadt vollgestopft mit Polizei, sie fährt in langen Kolonnen von Riot-Bussen durch die Stadt. Anhand der Nummernschilder überprüfen wir seine geographischen Kenntnisse Deutschlands.
„Dies ist das USK aus Bayern“, erkläre ich meinem Freund. „Sie sind bekannt für ihre Brutalität und ihren Hass auf Linke. Achte auch auf die Greiftrupps der BFE im Hintergrund.“
Diese Einheiten bleiben üblicherweise im Hintergrund und greifen nur ein, wenn sich die Lage zuspitzt. In Hamburg laufen sie Tage vor dem Gipfel maskiert und mit aufgesetztem Helm durch die Gegend um ein Machtbild zu produzieren. Von Anfang an wirkte Hamburg auf mich wie besetztes Gebiet.
In der Propaganda vorm G20 sagte die Polizei niemals exakt wie viele Polizist_innen im Einsatz sein werden. In Bezug auf die militanten Linksradikalen, die sich angeblich auf dem Weg Richtung Hamburg machen würden gingen sie jedoch ins Detail und entwickelten so die Story von extremistischen Horden aus dem Süden, die nun im Norden einmarschieren würden. Deutschland berief sich auf eine spezielle Ausnahme der Regeln des Schengen Abkommens, dass es Ländern innerhalb des Schengenraumes ermöglicht Grenzkontrollen zu re-etablieren um mit Sicherheitsbedrohungen fertig zu werden. Die deutlichsten neuen Kontrollen wurden an den Grenzen zu Belgien und Dänemark aufgebaut. Im Süden gab es bereits Kontrollen, die im Zuge der „Flüchtlingskrise“ 2015-2016 etabliert wurden. Subkutrurelles und insbesondere racial Profiling wurde bereits unter vorgehaltener Waffe an der Grenze zwischen Österreich und Deutschland durchgeführt. Als nächstes vollführte die deutsche Polizei eine detaillierte Pressekonferenz in welcher sie zeigte wie sie plane die Gefangenen des G20 zu behandeln, inklusive Photoshooting mit Journalist_innen in den Zellen. Sie hatten ein eigenes Gefängnis für den G20 für 400 Inhaftierte aus dem Stegreif gebaut, inklusive Verhörzellen und temporären Gerichtsräumen. Deutschland gab mindestens 3 Millionen für diese neuen Kapazitäten aus und engagierte für den Zeitraum Ende Juni bis zum Ende des Gipfels extra 130 Richter, damit Tag und Nacht eine_r zur Verfügung stünde.
Einige Tage vor dem Gipfel veröffentlichte die Polizei ein pathetisches Video mit „handgemachten Waffen“, denen sie angeblich habhaft geworden sind und warnte: „Das ist nur ein winziger Bruchteil dessen, was noch irgendwo lagert, und was die Täter ab Donnerstag in Hamburg einsetzen wollen.“ Sie bauten das Narrativ von unausweichlichen Zusammenstößen auf, betonten, dass „sich Extremisten aus Skandinavien, der Schweiz und Italien bereits auf dem Weg nach Hamburg.“ befänden und brachten sich vorausschauend schon einmal in die Opferrolle. Sie behaupteten, dass „8000 Militante“ aus Frankreich, Italien, Spanien, Skandinavien und Griechenland sich auf gewalttätige Proteste vorbereiten würden.
Hier können wir die orientalistische Konstruktion des Anderen entdecken, der nachtaktiven Kreatur aus dem Süden, dass sich versteckte Waffen aus Hamburgs Garagen schnappt und versucht die deutsche Stadt einzunehmen und niederzubrennen. Wir kennen ähnliche Narrative von der italienischen Regierung nach den Auseinandersetzungen in Genua 2001. Der italienische Innenminister behauptete, dass die Auseinandersetzungen während des G8 auf einem „links-terroristischen“ No Border Camp in Slowenien, eine Woche vor dem Gipfel, organisiert wurden. Die Bilder der Horden waren die selben – nur das sie vor 16 Jahren aus dem Osten und Norden kamen.
Der Diskurs vor dem G20 in Hamburg war so altbekannt, dass es sich so anfühlte als sei die deutsche Polizei etwas vorschnell mit ihrer Geschichte um schon voreilig eventuelle Tote und Schwerverletzte, die es vielleicht geben würde, zu rechtfertigen. Da dieses Bild aber so sehr im Widerspruch stand zu der Erfahrung vieler Hamburger_innen, die sie im Alltag mit radikalen sozialen Räumen, Buch- und Infoläden und Statdtprojekten haben, situierten die Autoritäten den Feind im Ausland.
Überall in Hamburg ließen sich lange Reihen von Polizeifahrzeugen, die kreuz und quer durch die Stadt fuhren beobachten, sie erschufen eine Atmosphäre totalitärer Kontrolle. „Schau mal – Sozialdemokratie“ sagt mein Freund aus den USA zu mir und zeigt auf den Krankenwagen am Ende der Polizeiwagen.
Ich schaue verdattert zurück….
„In den USA wäre da kein Krankenwagen dabei“, erklärt er und fügt hinzu: „Als mein Freund in Ferguson von einer Polizeikugel getroffen wurde, musste er mit Privatwagen zum Arzt gebracht werden – einen Krankenwagen gab es schlicht nicht.“
Vorspiel der Wut.
Dies ist nicht das erste mal, dass Hamburg sich als Brutstätte des Widerstands einen Namen macht. Die Hafenstrasse, in der die Welcome to Hell Demo starten sollte, ist seit den 1980ern eine Bastion der autonomen Bewegung. Mehrere Häuser in der Straße wurden 1981 besetzt und die Bewegung verteidigte sie erbittert im folgenden Jahrzehnt. Der Kampf erreichte 1987 einen Höhepunkt, als Leute 8 Tage lang Barrikaden aufrecht erhielten um eine drohende Räumung abzuwehren. Der erste Mai ist ebenfalls ein wichtiger Tag in Hamburg. Es kam zu Auseinandersetzungen als am ersten Mai 2008 Antifaschist_innen Neo-Nazis davon abhielten durch die Stadt zu laufen.
Das soziale Zentrum Rote Flora ist seit seiner Besetzung 1989 ein Flaggschiff der autonomen Bewegung. Im Dezember 2013, als die Stadt damit drohte die Flora zu räumen und abzureißen, wurde sie zum Symbol des Widerstands gegen Gentrifizierung. Dies spitzte sich am 21. Dezember zu, als sich mehr als 9000 Leute in Solidarität mit der Roten Flora, den Esso Häusern und der Gruppe Lampedusa Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten. Einen Monat später verkündete die Stadt eine Änderung ihrer Pläne bezüglich der Flora. Sowohl die Flora als auch die Gruppe Lampedusa gibt es heute immer noch.
Ich erhielt den ersten Sticker mit Bezug auf den G20 in Hamburg im Herbst 2016. Das war 15 Jahre nach dem legendären G8 in Genua. Es war fast 5 Jahre nach den großen Erhebungen in Europa und im mittleren Osten und all den lokalen Kämpfen, die daraus entstanden, inklusive den Solidaritätskämpfen mit den Refugees in Europa. Diese Erfahrungen zeigten uns Widerstandsformen, die Gipfelproteste irgendwie veraltet wirken ließen. Dennoch fühlte es sich irgendwie wichtig an nach Hamburg zu reisen.
Die Kämpfe gegen Gentrifizierung haben sich in den letzten Jahren unter anderem in Hamburg und Berlin zugespitzt. 2008 wurden in dem bekannten linken Berliner Stadtteil Kreuzberg so viele Luxusautos abgefackelt, dass einer Sprecher der Berliner Polizei, den Rat gab, dass die Leute schlicht ihre Autos dort nicht parken sollten. 2016 erreichte dieser Sport seinen Höhepunkt, als in einem halben Jahr über 200 Autos abgefackelt wurden und keine_r dafür festgenommen wurde. Im Februar 2016, nach einer Zahl Brandstiftungen gegen Autos, proklamierte ein unbekanntes Kollektiv, dass fortan jede Durchsuchung oder Räumung linker Projekte in Berlin mit einem Sachschaden von mindestens einer Million Euro beantwortet werden würde. In jenem Sommer erlebte Berlin die erfolgreiche Verteidigung des bekannten Squats Rigaer94, begleitet von massiven Auseinandersetzungen, die in manchen Medien als die gewalttätigsten der letzten 5 Jahre beschrieben wurden. Frankfurt war ebenfalls ein Schwerpunkt von Protesten gegen internationale Austeritätspolitik und deren Treffen. 2015 wurde die Stadt von Riots anlässlich der Eröffnung des neuen Hauptsitzes der Europäischen Zentral Bank erschüttert. Eine massive internationale Mobilisierung kristallisierte sich an diesem Symbol der Austertitätspolitik, die Deutschland seinen südlichen Nachbarn, insbesondere Griechenland, aufbürdete. Dies war eine der ersten Demonstrationen bei denen es die Leute schafften die klassische deutsche Polizeitaktik auszumanövrieren und Kontrolle über die Straßen zu erlangen.
Zur gleichen Zeit waren Anarchist_innen und andere aus der autonomen und antifaschistischen Bewegung damit beschäftigt, den Aufstieg der Rechten zu bekämpfen. Seit 2015 haben sich Neonazis darauf fokussiert Häuser für Geflüchtete anzugreifen und anzuzünden. Seit sich Gruppierungen wie Pegida, an der Seite von Parteien wie der AfD, auf der Straße etablieren konnten, haben sich Auseinandersetzungen auf der Straße mit diesen Gruppierungen intensiviert. Kurz vor dem G20 Gipfel hat die Berliner Polizei brutal die Friedel54 in Neukölln geräumt und dabei mehrere Leute verletzt und inhaftiert. Es fällt nicht schwer die Gewalt bei dieser Räumung als Provokation der Berliner Polizei zu sehen, viele von ihnen waren nur kurz zuvor aus Hamburg wegen ihrem schlechtem Benehmen nach Hause geschickt worden.
Sonntag, 2. Juli: NGO Legalismus und die Razzia im Park
Die Autoritäten machten von Anfang an deutlich, dass sie jede Form von Widerspruch, der nicht in das legalistische Format passte, dass durch die NGOs repräsentiert wurde, die ihre Demonstration eine Woche vor dem Gipfel durchführten, damit sie auch ja keinen direkt Einfluss auf die G20 nehmen könne niederschlagen würden. Während diese Demonstration stattfand, blockierte die Polizei den Zugang zum Entenwerder Park, in welchem das antikapitalistische Camp aufgebaut werden sollte. Nach einem langen Gerichtskampf, in welchem die Autoritäten alles daran setzten ein Camp zu verbieten, entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Organisator_innen das Recht haben dort ein Camp aufzubauen. Ungeachtet dessen, in direktem Bruch mit dieser Entscheidung, blockierte die Polizei das Camp mehrere Stunden lang.
Am Nachmittag erlaubten sie den Leuten schließlich das Gelände zu betreten und umzingelten das Gelände gleichzeitig mit mehreren Hundert Riot-Polizist*innen in voller Montur. Sie warteten bis zur Dämmerung, so dass das Filmen schwerer fällt, und fielen dann im Camp ein – schlugen wahllos auf Leute ein und verteilten Pfefferspray, um im Endeffekt einige Zelte zu beschlagnahmen. Einen ausführlichen Bericht zu der Razzia könnt ihr hier lesen.
Die Razzia im Entenwerder Park offenbarte die Naivität des Legalismus der NGOs. Die Autoritäten schmückten sich nicht damit, sich an die Entscheidungen der Gerichte zu halten: Die Polizei war faktisch zum höchsten Recht der BRD geworden. Die liberalen Organisator_innen waren die einzigen, die das Gesetz noch immer ernst nahmen und ihnen wurde es nur erlaubt sich mit ihrer Demonstration zu befassen, weil diese schlichtweg ineffektiv war.
Der Überfall auf das Camp in Entenwerder und die unprovozierten Angriffe auf die Welcome-to-hell-Demo vier Tage später passen zusammen: Es ging nicht um das vordergründige Geschehen, sondern die Effekte. Ziel war es, Menschen davon abzuhalten an den Protesten gegen den G20-Gipfel teilzunehmen. Die Angriffe hatten offenkundig nichts mit dem Verhalten der Demonstrierenden zu tun. Im Nachhinein wirken sie wie eine Choreografie. Die Camps wurden angegriffen, um das Signal zu senden, dass es in Hamburg keine sicheren Orte für Demonstrierende aus anderen Städten gibt.
Dienstag, 4. Juli
In der urbanen Landschaft des gentrifizierten Hamburg ist das „cornern“ eine charakteristische Beschäftigung: Menschen hängen herum, essen und trinken in den Straßen. Lokale Organisator_innen bemühten sich, daraus eine Waffe zu machen, indem sie drei Tage vor dem Gipfel zu einem Abend „hard cornern“ aufriefen. Bands spielten im Park am Grünen Jäger am Rande der Schanze; Tausende von Menschen wimmelten um sie herum durch die Straßen.
Das verärgerte die Polizei, die geschworen hatte, die Innenstadt Hamburgs während des Gipfels menschenleer zu halten. Es wirkte bereits ein bisschen so als würden sie die Kontrolle verlieren. Gleichzeitig errichteten anreisende Demonstrierende aus ganz Europa im gesamten Stadtgebiet Camps, nachdem die Organisator_innen den Park in Entenwerder als Campfläche endgültig aufgegeben hatten. Eines dieser Camps enstand hinter der Johanniskirche an der Sternbrücke. Transparente wurden aufgehängt, die Menschen dazu aufforderten, das Schauspielhaus zu besetzen. Aktivist_innen versuchten im Gählerpark im Herzen St-Paulis ein Camp zu errichten.
Kurz vor 21 Uhr, während sich Anwält_innen noch immer darum bemühten, die Camps zu legalisieren, formierte sich Polizei rund um den Gählerpark. Sie forderten den Abbau der Zelte, warnten zweimal und stürmten dann in voller Kampfmontur den Park, rannten die Zelte nieder und beschlagnahmten zwölf davon.
Menschen stellten sich der Polizei in den Weg, die mit Pfefferspray und Schlagstöcken antwortete. Schlussendlich zog sich die Polizei unter Sprechchören und Beifall zurück - nicht ohne erste Anzeichen von Unbehagen zu zeigen angesichts einer Menge, die von Minute zu Minute wütender wurde.
Wir hörten von der Räumung des Gählerparks und machten uns auf den Weg dorthin. Überall waren Leute am „cornern“. „Vielleicht gentrifizieren wir die G20 raus aus Hamburg“ scherzte ein Genosse,während er auf die Menge zeigte, die etwas tat, was ansonsten mit Gentrifizierung und Tourismus assoziiert ist.
Als wir uns dem Park näherten sahen wir rechts von uns Menschen in schneller Bewegung und rannten zu ihnen. Wir schlossen uns einer losen Menge an, die Parolen rufend durch die Straßen zog. Wir zogen weiter und immer mehr Menschen schlossen sich an, während die Polizei Wasserwerfer und Wannen auffuhr, um uns zu blockieren. „Das ist typisch für Hamburg“, erklärte mir ein Freund. „Die Bullen sind nervös hier, weil die Bullenwachen hier im Stadtteil bereits angegriffen wurden.“
Eine Spontandemo aus dem Gählerpark heraus zerfiel in kleinere Gruppen; die Polizei setze Wasserwerfer ein, um sie zu zerstreuen. Gegen 10 endeten Auseinandersetzungen an der Sternbrücke mit mehreren Verletzten und Festnahmen. Wenige Minuten später wurden 50 Menschen in der Susannenstrasse in der Schanze gekesselt, während in der nahegelegenen Stresemannstrasse Sitzblockaden entstanden.
In dieser Nacht verhaftete die Polizei zwei französische Demonstrant_innen, die in der Schädlerstrasse einen Anti-G20-Slogan an die Wand eines Restaurants gesprüht haben sollen. Später räumte die Polizei ein, dass beide von ihnen nach der Verhaftung medizinisch versorgt werden mussten.
Ich laufe Richtung Pferdemarkt. Ich nähere mich einer weitläufigen Straße mit einer großen Kreuzung im Zentrum St.Paulis. Auf einer Seite ist eine lange, hohe Mauer. Auf der anderen Häuserreihen, unterbrochen von kleineren Straßen und Bars. Als ich auf die Straße trete, sehe ich in eine Richtung der Straße Polizeieinheiten, die sich Helme aufsetzen und hinter Wasserwerfern Reihen formieren; in der Ferne erkenne ich, dass sie in die andere Richtung ebenfalls die Straße blockieren.
Einem Freund und mir gelingt es noch als letzte auf die Straße zu gelangen, bevor die Polizei die Nebenstraße absperrt. Wir springen über die kleine Mauer und bewegen uns mit der Menge, die vom Grünen Jäger weggetrieben wird, wo zuvor ein Konzert stattgefunden hatte. Einige leisten Widerstand, aber die meisten Menschen verstreuen sich nach dem ersten Polizeieinsatz. Polizist_innen schlagen hier einen alten Mann und dort ein Mädchen auf einem Rad.
Wenig überraschend wurde der Pferdemarkt zu einem der Ausgangs- und Kristallisationspunkt des Widerstands am gesamten Wochenende.
Um halb 11 begann ein Großaufgebot Polizei damit, den Pferdemarkt zu räumen. Erst setzten sie die Wasserwerfer ein; dann drängten breite Polizeireihen die Menge langsam zurück. Als Feuerwerk am Himmel explodierte und kurzzeitig den Polizeihubschrauber vertrieb und eine surreale Atmosphäre schuf wurden die Bullen immer aggressiver, schubsten und schlugen Menschen und deckten sie mit Pfefferspray ein.
Einige Maskierte riefen „Ganz Hamburg hasst die Polizei“. Aber die meisten waren einfache Partygänger*innen, die sich grundlos angegriffen fühlten. Unter ihnen auch jene, die im Arrivati Park angegriffen worden waren. Gegen Mitternacht hatte die Polizei die meisten der improvisierten Blockaden in der Stadt geräumt.
Ich mache eine Pause vom Rennen. Auf der Suche nach Sicherheit komme ich an einem Dutzend Leuten vorbei, die auf dem Gehweg sitzen, Gemüse grillen und Bier trinken. Ein Schild hängt am Fenter: No G20. Sie heißen mich willkommen und bieten mir Essen und Wasser an. Während wir reden steht einer von ihnen auf und blockiert für mehrere Minuten den Straßenverkehr. Die meisten von ihnen sind keine Aktivist_innen, sondern Künstler_innen, Student_innen, Bohemiens. Einer nimmt mich mit in seine Wohnung, wo seine Partnerin und ein kleines Kind mich willkommen heißen.
In jener Nacht machte ich diese Erfahrung noch in mehreren Wohnungen. Viele Anwohner_innen Hamburgs fühlten, dass der Staat ihre Stadt besetzte wie feindliche Militäreinheiten. Sie waren beschäftigt damit, ihre Kinder bei Hubschrauberlärm und Polizeisirenen zum Schlafen zu kriegen. Viele hatten rote Punkte an ihre Klingelschilder geklebt, um zu zeigen, dass ihr Wohnungen sichere Rückzugsorte für alle G20-Gegner_innen waren.
Ich hatte wütende Aktivist_innen erwartet. Aber ich fand die wirklich wütenden Menschen grillend auf dem Fußweg.
Wir endeten vor einem griechischen Restaurant in der Schanze. Die Familie, der es gehört, sympathisiert mit den Demonstrationen; der Vater ist Kommunist, der Sohn Anarchist. Demonstrant_innen halfen ihnen, ihre Tische reinzuräumen, als die Riotpolizei mit ihrem Einsatz die Straße hinunter begann. Das ist typisch für Hamburg: Größere Auseinandersetzungen spielen sich oft an dieser Kreuzung ab und die Polizei positioniert fast immer eine Einheit direkt hier.
Die Polizei schien in diesem Moment unschlagbar, obwohl die Anwohner_innen sich redlich Mühe gaben, sich zu wehren. Wir konnten kaum ahnen, dass drei Tage später an genau diesem Ort eine fröhliche Critical Mass von Radfahrenden unterwegs sein würde, während an allen Zugangswegen zur Schanze Barrikaden brennen und die ganze Nachbarschaft zu einer polizeilosen befreiten Zone werden würde.
Mittwoch, 5. Juli
Aktivist_innen, die von außerhalb Hamburgs kamen, hatten eine harte Nacht, weil die Polizei weiterhin Menschen schikanierte wo immer sie schliefen. In der Nacht versuchten Spezialeinheiten das besetzte Schauspielhaus zu räumen, wo viele Zuflucht gefunden hatten. Der Direktor des Theaters verweigerte die Zusammenarbeit mit der Polizei. Schließlich musste sie aus dem Gebäude abziehen und rund 100 Personen schliefen dort. „Nach dem was passiert ist, wollten wir niemanden zurück schicken auf die Straße“, sagte die Theaterbelegschaft der Presse.
Das Schauspielhaus ist ein offizielles Staatstheater und hat nichts mit radikaler Aktivität in irgendeiner Form zu tun. Ein weiteres Zeichen also, dass die Polizei die Hamburger_innen gegen sich aufbrachte. Diverse weitere Institutionen folgten dem Beispiel. Der FC St. Pauli bot beispielsweise am 6. Juli 200 Menschen einen Schlafplatz im Stadion an. Dort waren zudem das alternative Medienzentrum, eine öffentliche Essenversorgung einer Küfa und ein Informationspunkt eingerichtet. Während die Polizei versuchte die Straßen menschenleer zu halten boten zudem Konzerte und ein Fußballturnier dort einen sicheren Ort für Protestierende.
Außerhalb Hamburgs zogen Menschen einen Vorteil aus der Tatsache, dass so viele Polizeieinheiten in die nördliche Hafenstadt verlegt worden waren. In Wuppertal blockierten Aktivist_innen erfolgreich die Abschiebung von 39 Geflüchteten. Alle Spezialeinheiten Wuppertals waren, so wurde im Polizeifunk mitgehört, in Hamburg.
Zeitgleich entstanden überall in Hamburg, besonders in Altona neue Camps, eines in der Königstrasse und eines in Moorfleet. Nach den ursprünglichen Versuchen, ein großes Camp zu legalisieren erwies es sich als einfacher die Aktivitäten zu dezentralisieren und diverse Flächen überall in der Stadt zu besetzen oder zu legalisieren.
Das zwang die Polizei, ein Camp nach dem anderen zu räumen statt mit Hunderten an einem Ort einzufallen. Um 12.30 Uhr begann in der Hafencity eine entspannte Performance mit dem Titel „1ooo Gestalten“. Für zwei Stunden zogen über Tausend grau gekleidete, lehmbedeckte Menschen durch die Stadt, um zombie-ähnlich Entfremdung und Isolation im Kapitalismus zu verdeutlichen. Am Ende ihres langen Marsches warfen sie freudig den grauen Lehm ab, wurden farbenfroh, dynamisch, lebhaft und verdeutlichten mit dieser Geste die für alle Menschen möglichen radikalen Veränderungen.
Diese Aktion war der perfekte Auftakt für die riesige Parade, die um 18 Uhr von den Landungsbrücken starten sollte. Die Tanzdemo schuf eine freudvolle und entspannte Atmosphäre. Trotz der Auseinandersetzungen der vorigen Nacht, versammelten sich circa 20.000 Leute rund um 12 Lautsprecherwägen, auf denen Musik für alle Geschmäcker gespielt wurde. „Keine Angst, dies sind unsere Straßen“ war der ausschlaggebende Tenor als es Abend wurde in Hamburg.
Nach einigen Stunden Tanz zog die Polizei ihre Helme auf. Gegen 22:30 stoppten sie den Rave und kamen mit Wasserwerfern und BFE-Einheiten. Trotzdem schaffte es ein Großteil der Demonstration zum vorgesehen Ziel, dem Gängeviertel, und kam dort gegen 23:00 an. Einige Wasserwerfer wurden am Gänsemarkt durch sit-ins aufgehalten und zogen sich schließlich zurück. Es formierte sich noch eine kleinere Demonstration, die erfolglos versuchte bis zur Roten Zone, dem Messegelände auf dem sich die G20 Treffen würden, vorzudringen. Es kam zu einigen Gewahrsamnahmen am Jungfernstieg und an der Binnenalster.
Die zweite Nacht in Folge griff die Polizei abendliche Versammlungen an, erzeugte damit großen Unmut in den Medien (den sozialen und den anderen), machte Druck auf den Bürgermeister und erschuf so eine angespannte Stimmung vor der vielfach beschworenen Welcome to Hell Demo am Donnerstag.
Donnerstag, 6. Juli: Die Tore der Hölle öffnen sich.
Am Donnerstag kamen die G20-AnführerInnen nach Hamburg. In Hamburg wachte mensch mit den Nachrichten auf, dass in Eidelstedt bei einem Porsche-Händler 12 Luxuswagen abgefackelt wurden und ein Schaden von 1.3 Millionen Euro angerichtet wurde. Um 8:00 morgens kam ein Zug mit mehreren hundert Aktivist_innen an. Er war in Basel (Schweiz) gestartet und hatte durch massive Polizeischikanen mehrere Stunden Verspätung. Ohne weitere Erklärung hatten die Autoritäten mehrere Dutzend Leute an der Teilnahme dieser Reise gehindert. Die nun Ankommenden wurden von eine Reihe Riot-Cops am Bahnsteig begrüßt, die sie zunächst daran hinderten die U-Bahn Richtung Camp Altona zu betreten,sie aber schließlich passieren ließen. Die Aktivistinnen formten eine Spontandemo in Richtung Camp und kamen singend und Bengalos schwenkend dort gegen 10 Uhr morgens stilvoll an. Den gesamten Morgen über wurden Leute, die in Hamburg ankamen durchsucht, inhaftiert und aufgehalten. Zwei Busse aus Berlin wurden angehalten, die Taschen aller Anwesenden durchsucht. Zwei Genossinnen aus Italien wurden direkt am Flughafen inhaftiert..
Als ich Richtung Millerntor lief wirkte es fast so, als sei die gesamte Stadt evakuiert. Die einzigen Fahrzeuge auf den Straßen waren vollgestopft mit Polizistinnen, die einzigen Leute auf der Straße waren Journalistinnen in voller Schutzmontur. Die Stadtbusse fuhren nicht mehr, Geschäfte und Banken verbarrikadierten sich und die Polizei musterte argwöhnisch jede größere Gruppe.
„Funktioniert dein Internet auch nicht?“ fragte ein Mainstream-Medien Journalist. „Es ist auf einmal unglaublich langsam geworden, dabei habe ich eigentlich eine stabile Verbindung“. Er war besorgt, dass er die kommende Demonstration nicht live streamen würde können. Viele JournalistInnen um uns herum hatten ähnliche Probleme. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir keine Ahnung davon wie entschlossen die Polizei war, die Presse vom Filmen abzuhalten. Stunden bevor es losging war die Anspannung bereits überall zu spüren. Alle warteten darauf, dass es endlich 16:00 Uhr würde.
Viele autonome Gruppen hatten zu einer großen Kundgebung um 16:00 unter dem Titel WELCOME TO HELL aufgerufen, folgen sollte ihr eine Demonstration. Seit Monaten wurde ganz Deutschland mit Stickern und Plakaten überzogen, die zur Demo mit dem Untertitel „Live Resistance – Join the Black Block“ aufriefen.
Die OrganisatorInnen hatten eine kilometerlange Route entlang der roten Zone angemeldet. Sie hatten erwartet, dass die Autoritäten nur eine wesentlich kürzere Route genehmigen würden. Dennoch hatte die Polizei die gesamte Route ohne eine einzige Einschränkung akzeptiert. Nach all ihren Bemühungen die Camps zu verbieten und die gesamte Innenstadt frei von Demonstrationen zu halten war das ziemlich verdächtig: es bedeutete wohl, dass sie unter keinen Umständen die Demo überhaupt los laufen lassen wollten.
Konsequenterweise beschlossen viele erfahrene Aktivist*innen erst gar nicht an der Demo teilzunehmen, manche kamen nicht einmal zur Kundgebung. Die allgemeine Erwartung war, dass die gesamte Demo gekesselt werden würde – immerhin hatten die Autoritäten 31.000 Einsatzkräfte zur freien Verfügung. Der Auftaktort der Demo war der Fischmarkt in St. Pauli – mit der Elbe auf der einen Seite wirkte es so als sei es ein leichtes für die Polizei mit der Blockade aller Kreuzungen diesen Ort in eine Falle zu verwandeln. Einige malten sich aus, wie die Polizei die Demo einpferchen würde um dann Auseinandersetzungen zu provozieren und dann mit den berühmt berüchtigten deutschen BFE-Einheiten Leute aus der Demo zu ziehen und festzunehmen. Andere befürchteten, dass die Polizei die gesamte Menge über Nacht einkesseln würde, um die Leute an der Teilnahme an anderen Protesten in den nächsten Tagen zu hindern.
Nichtsdestotrotz versammelte sich eine bemerkenswerte Zahl von Leuten um an der Welcome to Hell Kundgebung teilzunehmen. Für viele war es schlicht zu wichtig eben dort zu sein, wie schlimm auch immer es ausgehen würde. Die Demo wurde seit Monaten als Hauptausdruck des unversöhnlichen Widerspruches gegen den G20 Gipfel beworben - wenn nichts passieren würde, wäre auch das eine Niederlage. Andere kamen einfach, weil sie sich ihrer Neugier nicht widersetzen konnten.
Die Menge, die auf dem Fischmarkt den Reden und Konzerten zuhörte, war überraschend divers und bunt. Sie sahen merkwürdigerweise gar nicht so aus wie die blutdürstigen Gangster aus der Polizeipropaganda. Sie sahen mehr nach lokalen FestivalbesucherInnen, PicknickerInnen, Großeltern und Enkeln aus. Die ZivilpolizistInnen in der Menge konnten einfach an ihren düsteren Blicken identifiziert werden. Alle Anderen hatten eine ziemlich gute Zeit. Der schwarze Block war auch anwesend, in Form eines riesigen, schwarzen aufblasbaren Blockes auf dem „the only good block is a black block“ stand. Um 17:00, als die Leute am Fischmarkt noch Reden und Konzerte hörten, machte sich eine Spontandemonstration vom Volksparkstadion mit circa 500 Teilnehmer*innen auf dem Weg zum Auftaktkundgebungsort. Eine halbe Stunde später griffen die notorischen Gewalttäter der bayrischen USK die Menge an, zogen sich aber wieder zurück.
Als das Programm auf dem Fischmarkt um 19:00 beendet wurde, fuhren einige Lautsprecherwagen mit unterschiedlichster revolutionärer Musik an die Spitze der Menge, gefolgt von einer Bezugsgruppe nach der anderen, die schwarze Windbreaker und Handschuhe über ihre farbenfrohen Sommerklamotten zogen. Kette nach Kette wurde gebildet: dies war der schwarze Block von Welcome to Hell.
Die Polizei erlaubte es dem Demonstrationszug sich einige hundert Meter gen Osten auf dem Fischmarkt zu bewegen um ihn dann kurz vor Höhe Park Fiction mit massiven Polizeireihen, Räumpanzern und mehreren Wasserwerfern zu stoppen. Zynischerweise hatten sie die ersten Reihen in ihre Falle laufen lassen um sie in einer Art Schlucht aufzuhalten – auf der einen Seite die Mauer Richtung Park Fiction, auf der einen Seite der 2 bis 3 Meter höher liegende Fußgängerweg.
Die Absicht der Polizei war offensichtlich: den vorderen militanten Teil der Demo isolieren und angreifen und so die gesamte Demo beenden. Dies war nur folgerichtig nach ihrer Behandlung des Camps am Sonntag und dem Einsatz roher Gewalt gegen jede Form von Ungehorsam während der gesamten Tage zuvor. Dennoch entwickelte sich die Konfrontation zwischen schwarzem Block und Polizei nicht so, wie es irgendwer erwartet hätte, da es noch weitere Elemente in diesem Stück gab.
Der schwarze Block bestand vielleicht aus 1000 Leuten, dahinter hatten sich allerdings bis zu 12.000 weitere Leute versammelt. Tausende PolizistInnen waren an allen Kreuzungen rund um die Demo versammelt, in regelmäßigen Abständen waren Greiftrupps der Polizei stationiert. Und trotzdem hatten sich außerhalb der Polizeireihen, auf den Anhöhen mit Überblick auf den Fischmarkt tausende Schaulustige versammelt. Viele von ihnen waren auf irgendeine Weise von der Presse: Kamerafrauen, die um ihre Blickwinkel kämpften, Blogger die mühsam versuchten einen Blick durch die vielen Reihen der Schaulustigen werfen zu können. Viele andere waren einfach neugierig, Leute aus der Nachbarschaft, die sehen wollten was passieren würde – oder die schlichtweg einfach ein Bier an einem der ersten wirklich warmen Tage des Jahres trinken wollten. Hinter dem Hügel im Park Fiction spielten einige Anwohner*innen Basketball und nahmen das anbahnende Drama um sie herum gar nicht wahr, bis vermummte Polizisten bis auf ihr Spielfeld rannten.
Aus der Perspektive der Polizei bedeuteten all diese ZuschauerInnen, Schaulustigen und zufällig anwesenden vor allem ein Risiko: Sie sehen zwar momentan harmlos aus, sie könnten aber trotzdem getarnte Anhängerinnen des schwarzen Blocks sein. Die Polizei bemühte sich also ihre Greiftruppen außerhalb der Schaulustigen zu behalten, aber immer wenn sie weiter zurück gingen, standen wieder bereits Schaulustige um sie herum. Die Polizei, die gehofft hatte die Radikalen zu umzingeln und zu isolieren, wurden selber von der gesamten Gesellschaft umzingelt. Zu diesem Zeitpunkt waren die Umstehenden wirklich nur das, Schaulustige – versuche Parolen zu rufen waren nur mäßig erfolgreich. Aber sie beobachteten – und die Polizei beobachtete sie.
Die Patt-Situation dauerte 45 Minuten an. Die ersten Reihen des schwarzen Blocks hielten ihre Stellung, hielten unbeirrt ihre Banner hoch während die Mächte der Zerstörung gegen sie aufliefen. Schließlich brach die Polizei die Spannung. Sie schossen einiges an Tränengas um dann aus einer Seitenstraße dem Block in den Rücken zu fallen und zwischen schwarzem Block und restlicher Demo anzugreifen. Sie umzingelten den schwarzen Block von vorne und hinten, an den Seiten nur mindestens 3 Meter hohe Mauern.
Ein Aufschrei tönte von den Balkonen und den umliegenden Geländern: Schaulustige waren aufgebracht über die Unsportlichkeit der Polizei. Es war die Art Aufschrei, die mensch im Stadion hören würde, wenn ein Spieler einen anderen mit der Faust umhaut um an den Ball zu kommen. Der Geruch von Tränengas wurde immmer stärker. Selbst im Park Fiction, der einige Meter erhöht liegt, wurde es schwer zu atmen.
Als das erste Tränengas verschossen wurde, attackierte die Polizei auch die zurück gebliebene Menge auf dem Fischmarkt von hinten. Darüber wurde wenig bis gar nicht berichtet, da sich die Medien auf die Ereignisse an der Demospitze konzentrierten. Dieses Ereignis ist allerdings wichtig, da es die Behauptung der Polizei, das sie schlichtweg auf einige Maskierte in den ersten Reihen reagiert hätten als Lüge entlarvt. Viele Leute gerieten in Panik und es gab keinen Ausweg, der nicht klaustrophobisch anmutete. Einige erfahrene Demonstrant*innen versuchten Ruhe zu bewahren, aber die regelmäßigen Angriffe der Polizei wahllos in die Menge hinein führten erfolgreich zu Bedingungen, die eine Massenpanik auslösen können.
Die Courage des schwarzen Blocks
Stellt euch folgende Szene vor: ihr steht in den ersten Reihen des Welcome to Hell Black Blocs. Du und deine Freund*innen habt euch vor Monaten entschieden da sein zu wollen, um sicher zu gehen, dass die ersten Reihen aus verlässlichen Leuten bestehen. Du wusstest von Anfang an, dass ihr euch in einen Alptraum begeben werdet. Dennoch überwiegt deine Hingabe an deine Gefährtinnen und die Bewegung die Angst um deine persönliche Sicherheit; du hast dich entschlossen hier zu sein, trotz der Gefahr von Verletzungen und Knast, aus Liebe zur Menschheit und dem Wunsch nach einer besseren Zukunft. Im Gegensatz zur Polizei hast du keine Schutzkleidung, bekommst kein Gehalt und du folgst keinen Befehlen.
Der Fischmarkt formt eine Art Schlucht an dieser Stelle, wo die Straße unterhalb der benachbarten Straßen liegt – für dich fühlt es sich angesichts einer undurchdringbaren Mauer voller Polizei allerdings eher wie eine Arena an. Die Geländer über dir sind voller Zuschauer*innen. Sie drängen sich auf dem Fußgängerweg auf Kopfhöhe zur einen Seite und zur anderen Seite auf der Ballustrade des Parkes, selbst auf den Dächern der umliegenden Häuser stehen sie. Hier unten, unter ihnen stehend fällt es dir schwer ihnen ihre passive Zuschauerrolle auf ihren sicheren Terrassen nicht übel zu nehmen. Vor dir kannst du 1,2,3 oder gar 4 Wasserwerfer zählen, dazu Räumpanzer und einiges weitere an schwerem Gerät. Du und deinen Begleiterinnen geht es wie Gladiatoren, die schlottern bevor die Tore aufgehen und die Löwen losgelassen werden.
Hinter dir explodiert etwas. Die Explosion unterstreicht ein Getöse aus Geschrei, Rufen und der robotermäßigen Stimme aus dem Polizeilautsprecher. Aus deinem Blickwinkel kannst du nicht sehen, was in deinem Rücken passiert, wo die Polizei wieder und wieder gegen das Ende des Blocks anstürmt und Demonstrant*innen versuchen sie mit einigen Flaschen und etwas Straßenpflaster davon abzuhalten. Du kannst lediglich das Tränengas riechen und hörst Explosionen und zerberstendes Glas. Ein Kanister explodiert vor dir und umhüllt dich mit Rauch. Als sich der Rauch etwas lichtet, siehst du wie sich die Reihen hinter dir ausdünnen – aus Angst in der Falle zu landen und weiter verprügelt zu werden haben Demonstrantinnen eine menschliche Pyramide gebildet um auf die südliche Mauer klettern zu können.
In diesem Moment formiert sich die Polizei vor dir und bildet eine Kette um den Block, von der südlichen zur nördlichen Mauer. Es sind nun vielleicht noch 50 von euch vorne übrig, die immer noch die Transparente – als fragilen Schutzwall gegen die volle Härte des Staates – hoch halten. Der Wasserwerfer schließt auf, Sirenen ertönen, er hält genau vor eurer Kette. Es gibt eine Szene in Der Herr der Ringe in welcher die Orks zurück fallen um Platz für den mächtigen Balrog zu schaffen, der dann die Protagonisten angreift. Ähnlich ziehen sich die weiß behelmten PolizistInnen zurück, während der Wasserwerfer seine Rohre auf dich ausrichtet. Es liegt immer noch Tränengas in der Luft. Die Genoss*innen hinter dir sind bereits geflohen. Ohrenbetäubender Lärm. Du bist nun von drei Seiten umzingelt von Sturmtruppen, die von Kopf bis Fuß in entsprechender Schutzkleidung stecken.
Es könnte kaum beängistigender sein, wenn sich die Erde auftut und aus dem Abgrund Flammen schlagen. Welcome to Hell, in der Tat.
Unglaublicherweise halten die ersten Reihen des schwarzen Block ihre Position unter diesen Bedingungen über fünf Minuten lang. In Videos kann beobachtet werden wie einige Polizisten zögern anzugreifen, selbst während andere auf der Rückseite den Block weiter bedrängen. Die Entschlossenheit dieser circa 50 Individuen ist zutiefst beeindruckend und zugleich erniedrigend für die Polizei, selbst die brutalsten und härtesten Schläger unter ihnen scheint sie kurz zum Denken gebracht zu haben. Durch ihre Standhaftigkeit haben diese Genoss*innen es den anderen hinter ihnen ermöglicht die Mauern zu erklimmen und wieder runter zu klettern, zu entkommen. Als sie sahen, dass sie die letzten auf der Straße waren zogen sie sich ruhig zurück zur Mauer, obwohl die Polizei von allen Seiten angriff. Diejenigen außerhalb des Blocks hielten ihre Reihen aufrecht, bis alle hinter ihnen flüchten konnten.
Tausende Schaulustige wurden Augenzeuge von dieser Geschichte – der Feigheit der Polizei und dem Mut des schwarzen Blocks. Innerhalb von 48 Stunden wurde die Courage von 50 Anarchist*innen zur Courage zehntausender.
Während wir uns zunächst noch wunderten, warum wir überhaupt loslaufen durften, erscheint uns das jetzt als eine gezielte Falle (eine Einschätzung die auch in vielen Texten geteilt wird). Wir standen innerhalb der ersten zehn Reihen der Demo. Direkt fiel uns unangenehm auf, wie viele Menschen sich nicht an den Protesten beteiligten, sondern nur zum Gaffen gekommen waren, zeitweise fühlten wir uns wie Zootiere.
Als die Polizei begann, auf den schwarzen Block einzuprügeln ergriffen weite Teile des vor dem ersten Lauti befindlichen schwarzen Blocks für unseren Eindruck panisch die Flucht und kletterten die Mauer hoch. Dabei ist für uns die Entscheidung, im schwarzen Block in Ketten zu laufen, auch eine Entscheidung, nicht gleich bei der ersten Konfrontation wegzurennen, sondern sich gegenseitig durch die Blockbildung zu schützen. Aus den vorderen Reihen beschlossen dann einige, sich seitlich zu stellen und neue Ketten zu bilden, aber wir wurden immer weniger und immer brutaler in die Enge getrieben, sodass wir auch die Mauer hoch flohen. Dass uns dabei zahlreiche Menschen halfen, die sich deswegen ihrerseits nicht vor dem Wasserwerfer in Sicherheit bringen konnten war ein wirklich starkes Zeichen. Doch die Angriffslustigkeit der Polizei war damit nicht zu Ende. Wir waren nun zweieinhalb Meter höher in einem erneuten Kessel gefangen, Polizeiketten an beiden Seiten, unter uns die letzten verbliebenen ca 30 Menschen die sich entschieden hatten nicht zu fliehen und sich der Polizei trotz Prügel weiter in den Weg stellten
Die letzte verbliebene Richtung war eine Mauer hinter der es zweieinhalb Meter auf eine Betonfläche hinabging. Also kletterten wir notgedrungen weiter, weil uns der Wasserwerfer im Kessel weitertrieb und wir offenkundig auch auf dieser Ebene nicht bleiben durften. Wir sprangen also von der Mauer auf die Fläche an der Elbe und wieder konnten wir uns über Menschen freuen, die uns auffingen und so Menschen eine verletzungsärmere Flucht ermöglichten. Die allerletzten hinter uns wurden von der Polizei schließlich die Mauer heruntergeschubst. Doch auch dort war an Bleiben nicht zu denken und die Polizei trieb uns wieder zurück Richtung Auftaktkundgebung.
Ich hatte am meisten Angst davor, dass die Polizei Menschen an dieser Mauer umbringen könnte. Während Menschen versuchten die Mauer zu erklimmen, versprühte die Polizei Pfefferspray auf der Straße und schlug auf alle ein, selbst wenn sie schon bewusstlos waren.
Ich konnte wegen dem Pfefferspray in meinen Augen nichts mehr sehen. Ich sah allerdings einen Schatten von irgendetwas was vor der Mauer auf dem Boden lag. In ihrer verzweifelten Flucht trampelten Leute darüber. Ich dachte dort läge eine Person auf dem Boden und versuchte zu ihr durchzugelangen. Ich musste an die Ereignisse bei der Loveparade in Duisburg denken. Als ich den Schatten erreichte erkannte ich, dass es lediglich ein Rucksack war. Ich werde aber niemals die Sekunden vergessen in denen ich dachte, dort sei eine Person zu Tote getrampelt worden. Dann tauchten Leute auf der Mauer über mir auf und forderten mich auf schnell hoch zu kommen. Sie nahmen meine Arme und zogen mich hoch.
Später konnte mensch auf der Straße lauter Schuhe liegen sehen, dort wo wir auf die Mauer gestiegen waren.
Der Flächenbrand entzündet und verbreitet sich.
Da so viele Leute noch hinter dem schwarzen Block standen und auf den Start der Demo warteten und mit den ganzen Schaulustigen drum herum konnte die Polizei keinen ordentlichen Kessel aufbauen. Während der Großteil des schwarzen Blocks die Mauer auf der südlichen Seite erklommen hatte und dann, da die Polizei weiter angriff, sich zum ursprünglichen Ort der Kundgebung zurück zog, konnten viele Demonstrant*innen sich nördlich hinter den Polizeistellungen wieder versammeln.
Einige Minuten später kam aus der Silbersackstraße, die nächste nördliche Durchgangsstraße Richtung Reepeerbahn vom St. Pauli Fischmarkt aus, eine lebendige kleine Demo. Die Teilnehmer*innen waren weder vermummt, noch trugen sie schwarze Klamotten, sie stimmten allerdings „A! Anti! Anti-Capitalista!“ an. Wundersamerweise hatten sie sogar ein Soundsystem aus dem Techno schallte dabei.
Die Aktionen hatten sich auf andere Protagonist*innen verlagert – und die Polizei war nirgends zu sehen.
Kleingruppen verteilten sich schnell durch alle Straßen. Demobeobachter*innen berichteten, dass zu dieser Zeit die Polizei wiederholt mit hoher Geschwindigkeit in die Menschenmengen gefahren ist. Daraufhin wurden gegen 20:00 die ersten Barrikaden errichtet, bestehend aus Baustellenmaterial. Die Polizei forderte mehr Riot-Cops zur Absicherung der Wasserwerfer an, da sie Angst hatten durch die wütende Menge zu fahren.
Zur gleichen Zeit wurde der Rest der Welcome to Hell Demo immer noch in der Hafenstraße von Wasserwerfern, Räumpanzern und zahlreichen Riot Cops aufgehalten. Die Menge forderte lautstark durchgelassen zu werden. Schließlich gab die Polizei nach und erlaubte es der Demo loszugehen. Gegen 22:00 Uhr erreichte sie die Reeperbahn und lief Richtung Nobistor, wo sich eine weitere Spontandemonstration gesammelt hatte.
Wir fanden einen Weg heraus aus der Demo und suchten einen in der Hafenstraße bestehenden Ruheraum auf, versorgten erste Pfeffersprayprobleme in unserer Bezugsgruppe und brachen sodann wieder auf. Weil wir der Polizei die Genugtuung nicht bereiten wollten, dass es nur eine Gewaltorgie braucht, um einen schwarzen Block komplett zu entfernen. Wir fanden die Reste der Demonstration, in der es fröhliche Musik vom Lautsprecherwagen gab und Ansagen, die uns sehr verwunderten und die wir nach der vorhergehenden Gewaltorgie völlig unangemessen fanden: So wurden die Menschen aufgefordert weiter fröhlich zu sein und gute Laune zu haben. In der sich im Anschluss neu formierenden Demo, die nach zähen Verhandlungen neu angemeldet und doch weiter durchgeführt werden durfte (wofür es leider von einigen Demoteilnehmenden Applaus gab, als wäre Dankbarkeit angemessen, wenn wir demonstrieren dürfen - igitt!) sammelte sich in beeindruckend kurzer Zeit ein neuer schwarzer Block und es formierten sich Ketten. Wir zogen bis auf die Reeperbahn und wurden kurz vor der Davidswache erneut gestoppt. Die Polizei prügelte sich durch die Demonstration, um den schwarzen Block zu kesseln. Bei unserem Versuch, den noch nicht ganz geschlossenen Kessel zu verlassen trafen wir an einem flachen Zaun auf viel Pfeffer und Gewalt. Ein Faustschlag eines Beamten und Pfeffer beförderten zwei Personen aus unserer Bezugsgruppe direkt wieder zurück in den Kessel, eine Person wurde im Zaun festhängend malträtiert und bei dem Versuch einer zwischen Polizisten am Boden liegenden Person zu helfen wurden zwei weitere Leute mit viel Pfeffer eingedeckt. Wir verbrachten dann also die nächste Zeit in einer solidarischen Kneipe auf der Reeperbahn, wo ein Arzt sich um die beiden vor Pfeffer blinden Personen kümmerte.
Auch dieser für uns zweite Angriff auf den schwarzen Block geschah ohne dass dem irgendetwas vorangegangen war und ohne dass es eine Möglichkeit gegeben hätte, sich zu entfernen. Offenkundig handelte es sich bei dem Vorgehen nicht um das Beenden einer aufgelösten Versammlung oder das Herausgreifen einzelner Menschen, denen irgendetwas bestimmtes vorgeworfen werden sollte (was sich auch daran zeigte, dass der Kessel nach kurzer Zeit ohne weitere Maßnahmen aufgelöst wurde), sondern um einen ganz gezielten Angriff auf den schwarzen Block als unerwünschte Struktur.
Gleichzeitig wurde der Neue Pferdemarkt zu einem neuen Hotspot, als die Polizei ein paar Minuten nach 22:00 rund um den den Arrivati Park begann „aufzuräumen“. Um 22:30 befand sich der zweite Versuch der Welcome to Hell Demo auf der Reeperbahn Höhe Davidwache, während eine weitere Spontandemonstration die naheliegende Holstenstraße hoch zog. Beide Demos vereinigten sich und wurden so zu einer großen Masse, die kurz vor 23:00 die Max-Brauer-Allee lang zog. Die Demo bestand nun aus circa 12.000 Leuten und es stießen immer mehr Leute dazu – vermutlich war sie größer als der erste Versuch der Welcome to Hell Demo. Die Spitze der Demo erreichte die Schanzenstraße, während der hintere Teil immer noch an der Sternbrücke war. Dort blockierten Riot Cops den Weg. In Reaktion darauf kam es um kurz nach 23:00 zu einigen Auseinandersetzungen.
In der Holstenstraße wurden Wasserwerfer aufgehalten und zum schnellen Abzug unter Rufen „Whose streets? Our streets!“ gezwungen. Barrikaden wurden errichtet und für eine kurze Zeit zog sich die Polizei aus dieser Gegend zurück.
Kurz vor Mitternacht versammelten sich wieder Leute vorm Grünen Jäger, wo früher am Abend ebenfalls Barrikaden errichtet wurden. Vorbei fahrende Wasserwerfer wurden mit Flaschen begrüßt. Ähnliche Szenen spielten sich in der ganzen Straße, im ganzen Viertel, ab.
Lange Reihen von Polizeifahrzeugen eilen immer wieder an uns vorbei. Jedes mal werden sie von nahezu allen umstehenden mit Flaschen eingedeckt. Wir sind fasziniert, dass die Wagen nicht einmal mehr anhalten. „Das würden sie sich üblicherweise niemals bieten lassen“, erkläre ich meinem Freund aus den USA.
Kurz nach Mitternacht hat die Polizei schließlich Erfolg damit, den Großteil der Demo auseinanderzutreiben, das sorgt aber lediglich dafür, dass sich die Leute in kleineren Gruppen in der gesamten Gegend verteilen und so weiter kämpfen.
Zur ungefähr selben Zeit positionieren sich Polizeieinheiten vor der Roten Flora auf dem Schulterblatt. Schnell kommt es auch hier zu Auseinandersetzungen und wieder einmal muss sich die Polizei zurück ziehen. Leute errichten brennende Barrikaden um sich die Polizei vom Leib zu halten.
In der gesamten Stadt werden in dieser Nacht Banken, Luxus-Läden und Autos angegriffen. Das passierte sogar weit nördlich der Ereignisse wie in der Osterstrasse in der zahlreiche Läden entglast wurden. Ähnliches passierte in Altona zum Beispiel bei einer Sparkasse.
Gegen 1:30 versuchte die Polizei mit Wasserwerfern und einer großen Zahl Riot Cops die Menge, die sich an der Sternbrücke versammelt hatte, zu zerstreuen. In den kleineren Straßen von St. Pauli kam es jedoch die ganze Nacht zu Konfrontationen. Angeblich wurden 76 PolizistInnen in dieser Nacht verletzt, es stellte sich jedoch später raus, dass die Polizei bei den von ihr heraus gegebenen Verletztenzahlen dreist gelogen hatte. Sie machten keine Angaben zu der Zahl verletzter oder festgenommener Demonstrant*innen. SanitäterInnen hatten 89 Einsätze und mussten vorrangig Kopfverletzungen, Brüche und Schürfwunden behandeln.
Kurz nach 2 entschließen wir uns nach Hause zu fahren. Auf den Straßen liegen überall Scherben und Reste von Barrikaden, an jeder größeren Kreuzung stehen noch haufenweise Wannen. Die S- und U-Bahn Stationen sind geschlossen und die Busse fahren absolut unregelmäßig.
Als wir schließlich einen Bus erwischen, ist dieser voll gepackt. Die Stimmung ist fröhlich: eine Mischung aus jungen Demonstrierenden, erfahreneren Aktivistinnen (die ungeschickt versuchen so wie Anwohnerinnen zu wirken), verträumte authentische Anwohnerinnen und einige untere Bürokratinnen, die wegen des Gipfels da sind.
Der Dialekt vom Typen neben uns verrät ihn als jemand, der aus einem anderen Teil Deutschlands angereist ist. Eine dicke Fahnenstange guckt ca. einen halben Meter aus seinem Rucksack raus. Als der Busfahrer eine Durchsage macht, haut er als Antwort einen Hooligan Song raus, irgendwas mit zerberstendem Glas und das Straßenpflaster aufreißen. Keiner widerspricht ihm.
Als wir das letzte Stück nach Hause laufen, denke ich darüber nach wie viel stärker der Widerstand war, stärker als alle erwartet hätten. Ich gehe davon aus, dass der nächste Tag friedlicher verlaufen wird, dass die Leute nach einer ganzen Nacht voller Riots erschöpft sind.
Freitag, 7. Juli: Kampfgebiet Hamburg
Wir wachen zum Sound von Sirenen auf. Von der anderen Seite des Hafen steigen dicke Rauchwolken, irgendwo aus der Innenstadt, auf. Ich und mein Freund tauschen wortlos Blicke aus.
Am frühen Morgen war ein schwarzer Block durch Altona gezogen, hatte Barrikaden errichtet, einige Scheiben bei Läden und Banken eingeschlagen und einige Autos angezündet. Ikea wurde mit Feuer angegriffen. Die Polizei war nirgends zu sehen, scheinbar hatten sie die Kontrolle über die Stadt immer noch nicht komplett wieder erlangt. Hamburgs Autoritäten riefen bundesweit nach mehr Polizeieinheiten zur Unterstützung, trotz der bereits 31.000 Polizist*innen vor Ort.
An einem anderen Ort, in der Nähe des Rondenbarg Wagenplatzes, umzingelte die Polizei circa 100 Leute um sie dann zu bedrängen und anzugreifen. Einige versuchten über einen 4m hohen Zaun zu fliehen. Unter Rufen wie „Antifa-Schweine: das ist euer Frühstück!“ trat die Polizei den Zaun ein und verletzte so 14 Leute – 11 davon schwer mit Brüchen und anderen schweren Verletzungen. Einige von ihnen lagen noch eine Woche später im Krankenhaus. Die Polizei behauptete gegenüber den Medien, dass sie von dieser Gruppe angegriffen wurden – später veröffentlichtes Videomaterial überführt die Polizei aber mal wieder der offenen Lüge.
Seit 6:00 morgens galten die verschiedenen „Zonen“, die in fast der gesamten Innenstadt Hamburgs jegliche Demonstration verboten. Dennoch kam es kurz nach der Dämmerung in der gesamten Stadt zu Blockaden – der Hafen wurde blockiert, die Gegend rund um die rote Zone, die Protokollstraßen der GipfelteilnehmerInnen. Die Blockaden hatten sich an den Stationen Landungsbrücken, Berliner Tor, Altona und Hammerbrook gesammelt. Von dort zogen sie jeweils durch die Stadt und führten eine Vielzahl von dezentralen Aktionen durch. Einige kamen dem Austragungsort des Gipfels nahe genug um kurzzeitig einige Delegierte in ihren Wagen zu blockieren.
Um 8:20 wurde der Hafen am Worthdamm / Veddeler Damm blockiert. Die Blockade hielt sich bis 11:00 Uhr. In der Stadt griff die Polizei die Blockaden mehrfach an, die Leute errichteten aber schlichtweg schnell neue an anderer Stelle. In der Innenstadt wurden Blockierer*innen gegen 10:00 von der Polizei in Richtung Mönckebergstraße gedrängt. Melania Trump konnte nur verspätet ihr Hotel verlassen, da es davor zu Konfrontationen kam und verpasste so einige ihrer anvisierten Aktivitäten.
Um 10:30 hatten alle BlockiererInnen ihre Positionen bezogen und so den Gipfel am reibungslosen Ablauf gehindert und den Hafen – und damit die Infrastruktur des Kapitalismus – kurzzeitig lahm gelegt (es kam zu Rückstaus, die noch 3 Tage später spürbar waren). Gegen 11:00 wurde ein Konvoi von G20 Delegierten auf dem Gorch-Fock-Wall durch Blockaden aufgehalten. Zur selben Zeit verließen tausende Schüler*innen die Schule - im Streik gegen den G20.
Wir liefen an einer der Blockaden am frühen Nachmittag vorbei – es wirkte irgendwie nur wie ein paar Hippies, die mit einem dieser großen aufblasbaren Quader spielten, bewacht von vier Wasserwerfern und einem Räumpanzer. Die Hippies blockierten die Straße nicht wirklich, im Gegensatz zu den Wasserwerfern. Mehrfach fuhren Autokolonnen mit schwarzen Limousinen und Vans zu der Kreuzung, fanden diese blockiert vor und machten einen U-Turn. So oder so ähnlich musste es an vielen Kreuzungen in der Stadt zugehen.
Als die Wasserwerfer schließlich damit begannen die Hippies mit dem aufblasbaren Quader anzugreifen, sorgte dies lediglich für mehr Schaulustige, von denen im Endeffekt einige auf die Straße gingen. Wir gingen einen Block weiter und fanden eine Polizeikette vor, die die Straße blockierte und keinen in die Richtung aus der wir kamen durchlassen sollte. Die Selbstgefälligkeit der Polizei war erfolgreicher als jede Blockade von Aktivistinnen, die ich gesehen habe.
Zur selben Zeit fand im weltberühmten Millerntor-Stadion des FC St. Pauli eine Pressekonferenz im Alternativen Mediencenter statt. RepräsentantInnen von Welcome to Hell, Block G20, Solidarity without Borders und von anderen Gruppen verurteilten einheitlich die Angriffe der Polizei am vorigen Abend und machten deutlich, dass es nur durch Glück keine Toten bei dem Polizeieinsatz am Donnerstag gab – außerdem machten sie deutlich, dass die Gipfelgegner*innen weiterhin solidarisch gemeinsam stehen und sich nicht spalten lassen würden. Ein Journalist vom NDR versuchte den Grundstein zur Spaltung durch einen angeblich vom Recht auf Stadt Bündnis auf Facebook veröffentlichten kritischen Post zur Welcome to Hell Demo zu legen – scheiterte aber daran, dass ein Vertreter des Bündnisses aus dem Publikum heraus die Stimme erhob und eine klare und starke Solidaritätserklärung mit allen anderen Protestbündnissen vortrug. Gleichzeitig entlarvte er dieses vermeidliche Posting als eine Einzelstimme und unterminierte so erfolgreich den Versuch Dissenz zu sähen.
Ein weiterer konservativer Journalist bezichtige die VertreterInnen der Propaganda, da sie den Ausgang der Gewalt eindeutig der Polizei zuschrieben. Ziemlich sicher würde er das gleiche niemals auf einer Polizeipressekonferenz tun und der Polizei „Propaganda“ unterstellen – und das obwohl die Polizei so offensichtlich schon bei der Anzahl verletzter Polizist*innen gelogen hatte.
Um 15:00 Uhr gingen wir zum Millerntorplatz, dem zweiten Treffpunkt der Block G20 / Color the Red Zone Aktionen. Wir waren überrascht dort auch ATTAC, eine der der gemäßigsten und legalistischsten organisierten Gruppen, anzutreffen. Seite an Seite mit wesentlich radikaleren Organisationen. Einer unter ihnen hatte sein Banner verbessert und ein Kreis um das A gemacht, sowie ein K am Ende ergänzt. Wir gingen neugierig auf ihn zu:
„Bist du von ATTAC, oder ist die Fahne nur…?“
„Ich? Ja, ich bin Teil von ATTAC. Ich denke mal, man könnte sagen, dass ich zum anarchistischen Teil von ATTAC gehöre.“
Um 15:0 Uhr sammelten sich die Leute am Millerntorplatz zu einem erneuten Blockadeversuch. Unter dem Motto „Block G20 / Color the Red Zone“ sollte eine Nachmittagsdemo durchgeführt werden, in der Hoffnung die Elbphilharmonie zu blockieren. Dort sollten sich später die G20 zu einer Vorführung der 9. Symphonie Beethovens versammeln. Sobald die Demo losging entwickelte sich ein Katz und Maus Spiel, bei welchem die Leute erst in die eine und dann in die andere Richtung durch die angrenzenden Straßen und den Park rannten, immer direkt verfolgt von Wannen und Wasserwerfern der Polizei.
Einige Blocks weiter sammelten sich Riot Cops, Wasserwerfer und eine Reiterstaffel bei den Landungsbrücken. Sie griffen DemonstrantInnen an, die sich mit Flaschen und Steinen verteidigten, alles nahe der Stelle an der am Vortag die Welcome to Hell Demo angegriffen wurde. Wiedermal gelang es der Polizei 50 DemonstrantInnen auf einer kleinen Promenade an der Elbe einzukesseln. Von vorne und hinten schubsend und von der dritten Seite mit Duschen aus dem Wasserwerfer trieben sie die Demonstrant*innen vor sich her. Auf der vierten Seite wurde der Fluchtweg durch den Fluss abgeschnitten. Auf dem verzweifelten Versuch zu entkommen suchten die Leute Deckung hinter den kleinen Hütten, die sonst die Tickets verkaufen. Schlussendlich wurden sie eingekesselt.
Unerschrocken errichteten einige Demonstrant*innen gegen 17:30 Uhr Barrikaden zwischen dem Fischmarkt und den Landungsbrücken, die Polizei schaute aus der Ferne zu.
Der Rest der Demonstration zog kontinuierlich Richtung Elbphilharmonie, begleitet von regelmäßigen Zusammenstößen mit der Polizei. Um 18:20 blockierten einige Leute den Eingang der Elbphilharmonie. Gegen 19:30 blockierten einige erfolgreich in der Nähe des Millerntors die japanische Delegation, die auf dem Weg Richtung Elbphilharmonie war, wurden aber relativ schnell vom Wasserwerfer vertrieben. Zur gleichen Zeit startete eine Critical Mass mit mehreren Hundert Fahrrädern.
Gefangen zwischen den Polizeiketten mussten wir uns irgendwie durchschlagen. Ich ging zu der einen Kette und erklärte den Polizisten, dass sie uns durchzulassen haben – schließlich sind wir akkreditierte Pressearbeiter (was auch irgendwie stimmte). Nach einiger Diskussion und dem eifrigen Vorzeigen der entsprechenden Akkreditierungen und Nachweise erklärte sich der Polizist bereit uns – unter der Bedingung unsere Taschen zu durchsuchen – durchzulassen. In unseren Taschen fand er nichts verfängliches.
Als er die Tasche unserer Begleitung aus den USA öffnet, weiteten sich seine Augen: „Was ist das?“
„Eine Karte.“, erklärte ich. Es war ja schließlich eine Karte, bloß eben eine Aktionskarte, die an den Infopoints verteilt wurde.
„Nein, ich meine das hier“ erwidert der Polizist und zieht einen langen schwarzen Schal aus dem Rucksack.
„Nur ein Schal“ entgegne ich – während wir im T-Shirt in der brennenden Hitze der Juli-Sonne stehen.
„Und das?“ – und dabei zieht der Polizist triumphiert einen schwarzen Kapuzenpullover aus der Tasche. Wir ahnen, dass er weiter unten bestimmt noch mehr verfängliches – wie zum Beispiel die schwarze Regenjacke – finden würde und tauschen entmutigende Blicke mit unserem Freund aus.
„Er kommt aus den USA und dachte nunmal, dass es hier in Hamburg wesentlich kälter sei! Diese Amis halt“ ist meine schnelle Erklärung, die dem Polizisten dann auch reicht.*
Zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei die Haupdemonstration so oft angegriffen, dass sich alles in Kleingruppen, die sich über die gesamte Stadt verteilten, aufgeteilt hatte. Nach einigen Tagen voller Alarmbereitschaft und 24 Stunden offenem Konflikt waren die Cops müde und wütend. Ihnen war die Fähigkeit zwischen militanten Anarchistinnen, gesetzestreuen Aktivisten und normaler Bevölkerung zu unterscheiden vollkommen abhanden gekommen. Es gab immer mehr Berichte über Angriffe auf AnwohnerInnen durch die Polizei. Die Polizei griff Leute vor einem Restaurant an; sie ging gegen AnwohnerInnen auf dem Hein Köllisch Platz vor; sie traten einen Mann vom Fahrrad und schlugen einen anderen zu Boden, ebenfalls auf dem Hein Köllisch Platz. Sie schubsten und schlugen alle, die sie zu packen bekamen, ohne überhaupt noch eine Rechtfertigung zu suchen.
Als auf Twitter Bilder auftauchten, wie die Polizei eine bewusstlose und schwer verletzte Person hinter sich her schleifte, antwortete die Polizei von ihrem offiziellen Account: „Und was hat die Person vorher getan?“ Wenn mensch ihr Verhalten gegenüber anderen in der selben Nachbarschaft zur selben Zeit als Hinweis nimmt, dann ist die wahrscheinliche Antwort „Nichts. Rein gar nichts“. Selbst in offiziellen Statements der Polizei war der Polizeisprecher nicht besorgt über die Rechtmäßigkeit jemanden bewusstlos zu schlagen und hinter sich auf der Straße herzuschleifen; einzig ihr erbitterter Zweikampf mit der allgemeinen Bevölkerung machte ihm Sorgen.
Ungefähr zu dieser Zeit kam es zu erneuten Auseinandersetzungen rund um die Rote Flora. Im Schanzenviertel wurde ein Schaulustiger, der sich weigerte mit dem Fotos machen aufzuhören, verjagt. Ein Zivilpolizist bekam dies mit, hielt den Schaulustigen für einen Kollegen und feuerte einen Warnschuss auf der belebten Straße ab und suchte danach Zuflucht in einem Laden.
Die Situation auf dem nahegelegenen Pferdemarkt geriet langsam außer Kontrolle. Die Polizei war gezwungen sich zurück zu ziehen, in ihrem Kielwasser wurden brennende Barrikaden errichtet.
Für 20:00 wurde ursprünglich auf der Reeperbahn von einer autoritären, kommunistischen Gruppe zu einer weiteren Demo aufgerufen, diese wurde allerdings abgesagt. Dennoch versammelten sich tausende auf der Reeperbahn, auf der auch bereits ein großes Konzert von NGOs statt fand. Als sich nicht unmittelbar eine Demo in Gang setzte, flossen die Leute nördlich Richtung dem Chaos auf der Schanze.
Wir machten uns auf der selben Route wie Donnerstag Nacht auf den Weg von der Reeperbahn Richtung Schanze. An jeder Kreuzung versuchte die Polizei diese zu blockieren, sie wurden dabei allerdings von allen Seiten gestresst und so konnten wir uns Kette nach Kette bis zur Schanze durchschlagen. Am Grünen Jäger fing gerade – inmitten des ganzen Chaos – eine Punk Band mit einem Konzert an. An der Kreuzung zuvor wurden wir Zeuge eines Hit-and-Run Angriffs von dutzenden black bloc AktivistInnen, die aus einer westlichen Seitenstraße kamen, die Polizei massiv mit allen möglichen Wurfgeschossen eindeckten und dann sofort wieder verschwanden. Dies lenkte die Polizei mal wieder genug ab, so dass an anderer Stelle an ihnen vorbei gezogen werden konnte. Einer der Cops an der Seite hatte seit neustem eine pinke Uniform, sonderlich gut gefiel ihm das augenscheinlich nicht.
Wir hatten von Ausschreitungen vor der Roten Flora gehört, waren uns aber sicher, dass diese bis zu unserem Eintreffen wieder vorbei sein würden. Nach der nächsten Polizeikette konnten wir allerdings erkennen, dass sich nördlich von uns, in nicht allzuweiter Entfernung, etwas dramatisches entwickelte. Mehrere Wasserwerfer waren in einen Kampf verwickelt. Hinter ihnen stiegen zwei große Rauchsäulen in den Abendhimmel. Selbst aus dieser Entfernung erschraken wir vor dem dumpfen Geräusch von Explosionen. Hunderte Polizistinnen stürmten die Kreuzung rauf und runter, sie waren erschöpft und ihre Reihen weit auseinandergezogen. Als eine Einheit durch eine neue ersetzt wurde, nutzen wir die Gelegenheit und eilten über die Straße. Auf einmal standen wir auf der anderen Seite der Kette, dort wo mutige Demonstrantinnen die Wassserwerfer durch einen kontinuierlichen Hagel an Wurfgeschossen auf Distanz hielten.
Auf dieser anderen Seite – Freiheit. Die Polizei hatte die Kontrolle verloren. Wir gingen zur Kreuzung Neuer Pferdemarkt, Schulterblatt und Schanzenstraße. Hier brannten zwei riesige Freudenfeuer. Die Atmosphäre war entspannt. Leute standen gemeinsam auf der Straße, bewunderten die Feuer, unterhielten sich, es gab Getränke und Essen. Außerhalb, dort wo die Polizei die Straßen kontrollierte, war die Hölle aus Gewalt, Chaos und Angst. Hier, wo sie die Kontrolle verloren hatte, erfuhren wir die ersten friedlichen Momente der letzten Tage.
Die Verteidigung der polizeibefreiten Schanze
Gegen 21:00 war die Schanze umringt von brennenden Barrikaden. Die Polizei war gezwungen sich zurück zu ziehen. Um 21:30 wurden einige Geschäfte, inklusive Rewe und Budni, geplündert. Waren wurden auf der Straße verteilt. Es kam zu verbissenen Zusammenstößen in der Lerchenstraße, in der Nähe brannten große Feuer. Um 22:45 beschrieben Leute St. Pauli liebevoll als „außer Kontrolle“.
Bei den Auseinandersetzungen am Rande der befreiten Zone nutze jemand einen dieser großen Regenschirme, die bei Cafes aufgestellt werden um die Tische im Außenbereich trocken zu halten, und versuchte sich damit vor dem Wasserwerfer zu schützen. Die Kraft der Druckwelle drückte ihn dennoch weiter zurück, so das er auf dem Asphalt rückwärts rutschte. Dann nahm eine weitere Person einen dieser Schirme und verkeilte ihn hinter dem ersten. In dieser Position konnte der Wasserwerfer sie nicht mehr bewegen. Es war zwar nur symbolisch, fühlte sich aber nach einem moralischem Sieg an.
Etwas tiefer in der Schanze, in der Nähe einer brennenden Barrikade, wurde ein Elektronikladen geplündert. Irgendwer ergatterte einen gigantischen Flatscreen von Apple und trug ihn Richtung Feuer. Einige Leute am Rand versuchten ihn abzuhalten, schrien, dass das Ding doch teuer sei – er warf es dennoch voller Freude in die Flammen. Alle applaudierten, irgendwie erleichtert. Die Zerstörung von Waren kann eine Art Therapie sein, die uns von der Habgier erleichtert.
Aus meiner Sicht veranschaulichen diese Szenen die Schaffenskraft und die festliche Atmosphäre, die sich in Momenten wie jenen die wir in der befreiten Schanze erlebten durchsetzen.
Die Critical Mass, die sich schon um 19:00 gesammelt hatte, kam gegen 23:00 in der Schanze an, am Höhepunkt des Abends. Trotz all der furchterregenden Rhetorik, die die Schanze in der Zeit in der sie von der Polizei befreit war, wie eine Szene aus einem Breughel Gemälde beschrieb, erfuhren diejenigen, die vor Ort waren, eine Atmosphäre wilder Festlichkeit und großer KomplizInnen-schaft. Viele Geschäfte hatten offen, voller Leute die sich Falafel oder Getränke kauften. Als die Leute am Straßenrand den ankommenden FahradfahrerInnen zujubelten hätte es ein familienfreundliches Festival sein können. Der allergrößte Teil der Teilnehmenden waren weder AnarchistInnen noch Fremde aus Südeuropa, sondern ganz normale Leute aus Hamburg, die sich in den letzten Wochen gegen die Polizei gewandt hatten. Außerhalb der Schanze, selbst in Gegenden in denen es keine AnarchistInnen gab, zogen Leute aus der Nachbarschaft Mülltonnen auf die Straße und zwangen so die Polizei ihre Reihen auf immer größeres und weiteres Terrain auszudünnen.
Nachdem wir die Fahrradparade an uns vorbeiziehen haben lassen, gingen wir Richtung Osten. Im Vergleich wirkte die Nachbarschaft hier fast menschenleer; die Ruhe war eine willkommene Erleichterung. Ein paar Leute spielten mit einem Beachball mitten auf der Straße; über ihnen leuchtete der Vollmond durch den Rauch der brennenden Barrikaden. Eine surreale Szene.
Im Nachhinein gab es einige legitime Beschwerden von Anwohner*innen und lokalen Geschäften über „erlebnishungrige Jugendliche“, die aus kaum ehrbaren Motiven Sachen durch die Gegend warfen, Flaschen zerbrachen und dann ein Selfie vor der Barrikade machten. Die Lösung dafür scheint allerdings nicht weniger Riot, sondern mehr Politik zu sein.
Um 23:30 verdichteten sich erste Berichte darüber, dass sich am Rande des Schanzenviertels SEK und GSG-9 mit scharfen Waffen sammeln würde. Die ersten Versuche der Polizei die brennenden Barrikaden zu räumen stießen auf entschlossenen und freudvollen Widerstand. Als es der Polizei schließlich gelang Gelände zu gewinnen und sie sich von einer Barrikade zur nächsten vorkämpfte, stiegen die Spezialkräfte auf Häuserdacher und kontrollierten die Straßen von oben – mit Maschinengewehren. Für die USA wäre dies nichts ungewöhnliches, in Europa ist so etwas allerdings äußerst selten.
Erst als die Mehrheit der Leute schlafen gegangen war, gelang es der Polizei die komplette Kontrolle über das Gebiet wieder zu erlangen. Erschöpft und gedemütigt behandelten sie die Nachzügler*innen noch brutaler als zuvor.
In der gesamten Zeit hatte die Polizei auch auf dem Terrain der Medien, genau wie auf den Straßen, gekämpft. Am frühen Abend hatten sie die Leute via Twitter angefleht nicht weiter den schwarzen Block zu unterstützen; in der Nacht forderten sie JournalistInnen auf die Schanze zu verlassen und die Polizeioperationen nicht weiter zu dokumentieren. Einige Polizist*innen zwangen sogar unter vorgehaltener Waffe Journalist*innen dazu das Viertel zu verlassen. Offensichtlich wollten sie nicht, dass die Medien dokumentieren wie sie die Kontrolle verlieren – und wie sie diese gewaltsam versuchten wieder zu erlangen.
Samstag, 8. Juli: Die ganze Welt hasst den G20
Samstag war eine Ehrenrunde für die Demonstrierenden. Sie hatten nicht nur definitiv gezeigt, dass es niemals sozialen Frieden unter der Führung der G20 geben wird, sie hatten auch gezeigt, dass sie sich zumindest temporär der Polizei erfolgreich entgegen stellen konnten. Nun zogen zehntausende in einer riesigen Demo durch die ganze Stadt zum Abschlusskundgebungsort am Millerntorplatz und zeigten Solidarität und Geschlossenheit, trotz politischer und taktischer Unterschiede.
Als ich rund um die Abschlusskundgebung lief, war ich nahezu erschlagen von der sichtbaren Diversität. Zusätzlich zur Hauptbühne gab es eine Vielzahl von Lautsprecherwagen auf denen verschiedene, tanzbare Musik spielte, es gab verschiedenste Stände mit Getränken und Nahrung gegen Spende oder gleich kostenlos. Der Großteil schlenderte herum, unterhielt sich mit FreundInnen und nahm die Szenerie in sich auf. Im Gegensatz zur digitalen Isolation in welcher so viele Leute bei uns in den USA ihr Leben verbringen, kam es mir so vor als sei das soziale Leben das eigentliche Commons – in welchem wir belebt und ermutigt werden durch die Gesellschaft der anderen, berauscht aneinander.
Die OrganisatorInnen sprachen von 76.000 Teilnehmenden, während die Massenmedien zugaben, das es über 50.000 waren. Dies ist ein wirklich wichtiger Punkt: obwohl Politiker*innen und die Massenmedien über die „Gewalt“ (meint die Akte der Selbstverteidigung gegen die Polizei) in Hamburg klagten und behaupteten, dass diese die Öffentlichkeit von den Demonstrierenden abschrecken würde, war die Demo in jedem Maßstab gut besucht. Mit der Teilnahme an der Samstags-Demonstration, die kurz nach zwei Tagen heftiger Auseinandersetzungen statt fand, brachten zehntausende zur Geltung, dass sie Teil einer Bewegung sind, die auch eine Vielzahl konfrontativer Taktiken beinhaltete. Sie waren nicht abgeschreckt von den Ereignissen am Donnerstag und Freitag. Im Gegenteil waren viele von ihnen inspiriert worden.
Wenn wir an die besorgten BürgerInnen denken, die von sich selbst behaupten die allgemeine Öffentlichkeit, die von dem Widerstand in Hamburg abgeschreckt wurde, zu repräsentieren, von wie vielen Leuten reden wir denn da? Die social media Einlage ‘Hamburg räumt auf’ vom Sonntag zog lediglich einige hundert TeilnehmerInnen an, ein kläglicher Bruchteil der Zahl an Leuten, die über die gesamte Woche gegen den G20 protestierten. Einige GeschäftsinhaberInnen des Schanzenviertels veröffentlichen ein bemerkenswertes, die Proteste unterstützendes, Statement.
Statt sich eine gesichtslose „breite Öffentlichkeit“, die jede Form von Gewalt (es sei denn ausgeführt durch die Polizei) ablehnt und den ExpertInnen jedes Wort glaubt zu imaginieren, sollten wir uns daran erinnern, dass die Gesellschaft ein Kompromiss aus unzählbaren verschiedenen Elementen ist, von denen viele Meinungen haben, die niemals von FernsehsprecherInnen wieder gegeben werden. Der Großteil der Panikmache über den G20 Widerstand ist eine beabsichtige Medienkampagne mit klassischen Themen. Sie ist nicht darauf ausgerichtet die Realität so darzustellen wie sie ist, sondern zielt darauf, dass wir Angst voreinander bekommen, dass es uns schwer fällt uns vorzustellen, dass es andere gibt, die wollen was wir wollen. Am Samstag, beim Blick durch die Menge in der Innenstadt Hamburgs war jedoch klar, dass offener Widerstand bereits populär ist.
Selbst in dieser Situation, in der sie nichts zu gewinnen hatten, konnte die Polizei es nicht lassen Leute auf der Demo gegen sich aufzubringen – sie sprühte am Rand willkürlich mit dem Wasserwerfer und schickte Greiftrupps wahllos durch die Menge. Schließlich formten Demonstrant*innen eine Eingrenzung rund um den Wasserwerfer, setzen sich vor ihn und blockierten ihn so. Dies zeigte einmal mehr, dass wir solange es die Polizei gibt, nur vor ihnen sicher sind wenn wir uns gemeinsam widersetzen.
Das Nachspiel
Am selben Abend, als die außwärtigen DemonstrantInnen Hamburg bereits verlassen hatten und die erschöpften OrganisatiorInnen früh zu Bett gingen, fand sich die Polizei in Auseinandersetzungen mit ganz normalen Leuten wieder. In den vorangegangenen 48 Stunden wurde es selbst für unpolitische Mengen üblich vorbeifahrende Polizeikolonnen mit Flaschen zu bewerfen; der Widerstand gegen die Besatzung der Polizei hatte sich normalisiert. In solchen Situationen, ganz egal wie erschöpft wir auch sind, ist es besonders für erfahrene Anarchist*innen wichtig in Kontakt mit den rebellischen Elementen der übrigen Bevölkerung, die einen Wunsch nach unregierbarem Verhalten haben, aber kein Know-How haben dies sicher zu tun, zu kommen.
Später am Abend stieg die Anspannung als sich Spezialkräfte mit Maschingewehren wieder einmal vor der Roten Flora sammelten. Viele befürchteten das die Polizei einen Räumungsversuch starten würde. Schlussendlich bildete die Polizei Ketten, vertrieb die Menge, erzeugte Panik aber ging nicht gegen die Flora selber vor. Trotz des Backlashes, trotz der eiligen Versuche von rechtsaußen das Debakel von Hamburg für die Forderung nach mehr totalitären Polizeimaßnahmen zu nutzen, überlebte die linke Szene in St. Pauli das Unwetter mit intakter Infrastruktur.
Zumindest bis jetzt.
Wir werden sehen was die kommenden Jahre bringen werden. Bestimmt wird es zu einer Gegenreaktion kommen, da die herrschende Ordnung die Ereignisse in Hamburg als Ausrede für hartes Durchgreifen nutzen wird – wie auch das Verbot von Indymedia linksunten zeigt. Allerdings würden sie das so oder so tun, so schnell es eben geht. Gefügsamkeit wird uns nicht beschützen; sie wird die eskalierenden Konflikte, in die wir bereits verwickelt sind nicht aufhalten. Wir müssen aus dem was wir in Hamburg tun konnten lernen und darin besser werden. Kurz: wir müssen weiter gehen und uns nicht zurück ziehen. Es gibt kein zurück in weniger kämpferische Zeiten. Die Geschichte hat keinen Rückspul-Button.
Ein Aufruhr wie jener zum G20 bietet aufsteigenden Tyrannen Möglichkeiten, er gibt aber auch uns die Möglichkeit für kollektive Selbstverteidigung zu argumentieren und die verbreiteten Vorstellungen von Widerstand zu erweitern. Das Vermächtnis des G20 2017 wird jetzt bestimmt, danach – dadurch was wir an Erinnerungen mit ihm verknüpfen, was wir daraus lernen und wie wir ihn nutzen um die Gespräche zu führen, die wir gerne führen würden. Der erste Schritt ist die Unterstützung der Gefangenen und Verletzen und das Sich-Orientieren im aktuellen öffentlichen Diskurs, so dass wir die Ereignisse in Hamburg dazu nutzen können den Kapitalismus und den Staat zu delegitimieren, statt ihnen die Möglichkeit zu überlassen,uns zu dämonisieren. Danach sollten wir die Strategien und Ziele, nach denen die Autoritäten vorgingen, bestimmen – und unsere eigenen Strategien und Ziele verfeinern.
Ich habe gelernt wie sich Angst anfühlt. Ich spreche nicht von der Angst um mich selbst, sondern von der Angst um andere Menschen. Der G20-Gipfel fand statt und damit einhergehend auch die Proteste. Ich konnte allerdings nicht nach Hamburg fahren. Also bin ich zu Hause geblieben, während meine FreundInnen und Bekannte zu den Protesten fuhren. Bereits zuvor dachte ich mir, dass ich mir Sorgen machen werde. Doch am vergangen Wochenende habe ich mir nicht nur Sorgen gemacht, ich hatte Angst. Angst um das Leben von Menschen - und spätestens als die Meldung von dem Warnschuss kam, wusste ich nichts mehr mit mir anzufangen.
Ich freue mich über jeden Menschen, der un- oder nur leicht verletzt nach Hause kommt. Doch das ist nur der physische Teil. Denn die unsichtbaren psychischen Wunden, die zum Teil noch Jahre nachwirken können und genauso schwer wiegen, wie die physischen, werden nur wenig bis gar nicht beachtet. Viele meiner FreundInnen und Bekannten sind nach Hause gekommen und ich merke wie dieser Gipfel etwas mit ihnen gemacht hat. Ich merke wie schwer das Erlebte nachwirkt und wie groß der Bedarf ist zu reden.
Im Anschluss an dieses Wochenende habe ich für mich eine „Aufgabe“ gefunden, die darin besteht mit den Menschen zu reden und sie darin zu unterstützen das Erlebte zu verarbeiten. Denn uns kann nur die eigene Struktur auffangen und wir müssen für einander da sein.
In diesem Sinne: Bildet Banden and never stop fighting!
Anhang: vom 1. Mai 87 bis Hamburg 2017
Die Ereignisse am 1. Mai 1987 in Berlin und der G20 2017 in Hamburg verdeutlichten jeweils, wie eine Polizeitaktik an ihre Grenzen kommt. 1987 begann die deutsche Polizei ihr momentanes Model der Massenenkontrolle einzuführen – dies geschah um die Art und Weise wie Mengen sie ausmanövriert und besiegt hatten, besonders am 1. Mai des selben Jahres – zu korrigieren. Das folgende Modell der deutschen Polizeitaktik – lange Polizeiketten, die von sehr mobilen Greiftrupps, die sich nah an der Menge befinden, ergänzt werden – hat sich bis zum G20 als mehr oder minder effektiv erwiesen um städtische Unruhen zu kontrollieren.
Genau 30 Jahre nach der Entwicklung dieses Modells haben es die Mengen in Hamburg wieder einmal geschafft die Polizei auszumanövrieren und zu besiegen. Dieses mal gelang es ihnen dadurch, dass sie den Aktionsradius über ein großes Gebiet ausbreiteten, sich schnell bewegten und sich auf dezentralisierte Aktionen fokussierten. Wo auch immer die Polizei eine Kette errichtete versammelten sich Leute auch auf der anderen Seite der Kette – nicht nur DemonstrantInnen, sondern auch unterstützende Schaulustige. Kleine, gut organisierte Bezugsgruppen konnten Fluchtwege ausmachen und schnelle Angriffe durchführen, während größere Gruppen die Polizeikräfte erst in die eine und dann in die andere Richtung banden. Je mehr Territorium die Polizei kontrollieren musste, desto mehr brachte sie die Bevölkerung gegen sich auf und hatten in den ausgedünnten Ketten so auch mit immer mehr Demonstrant*innen zu tun. Schlussendlich verloren sie die Kontrolle über das rebellischste Viertel und mussten sich komplett zurück ziehen.
Anstatt uns auszumalen, dass die Autoritäten scheinbar den eigenen Kontrollverlust inszeniert haben – eine paranoide Vorstellung, die jede Handlungsfähigkeit einem omnipräsenten Gegenüber zuschreibt – sollten wir uns genau anschauen wie und warum ihre Strategie zusammenbrach. Wenn wir uns auf das Wesentliche beschränken, Verschwörungstheorien eliminieren, dann ist die folgerichtige Erkentniss, dass die Polizei es in Hamburg für notwendig hielt jeden Protest mit brutaler Gewalt zu unterbinden, in dem Wissen, dass dieser Versuch vermutlich auf Gegenwehr stoßen wird. Sie haben uns unterschätzt, oder aber sie hatten keinen besseren Plan. Dies sagt etwas über unseren historischen Moment aus: selbst in den wohlhabendsten Nationen kann sich der brüchige Friede zwischen den einzelnen Elementen der Gesellschaft kaum noch aufrecht erhalten. Es kann uns zusätzlich aber auch als Warnung dienen: vielleicht müssen wir uns schon bald mit neuen Polizeistartegien auseinandersetzen.
Widerstand ist der Motor der Geschichte, wie mensch so sagt.
Until everyone joins the black bloc, CrimethInc. ex-Workers’ Collective
Weiter lesen:
Weitere deutschsprachige Texte von CrimethInc.
Statement einiger Geschäftstreibender auf der Schanze
Statement von der Interventionistischen Linken
Statement von der Gruppe Achter Mai
Statements der Rote Flora, 8.7. und vom 12.7.
Statement vom Welcome to Hell Bündnis